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… in die Jahre gekommen – Einfamilienhaus

Einfamilienhaus in Lüttich 1967 – 68
… in die Jahre gekommen – Einfamilienhaus

Mit Hilfe des Computers kann man heute Gebäude errichten, in denen Wände und Decken in komplexen Geometrien ineinander übergehen. In einem Einfamilienhaus in Lüttich war dies bereits 1968 möglich. Das allein überrascht. Aber mehr noch verwundert, dass dieses Haus die Kraft hat, heute als Antwort auf Fragen gelesen zu werden, die erst nach seiner Vollendung gestellt wurden. Aided by computer, buildings can today be erected in which walls and ceilings merge in complex geometry. For a familiy house in Liège this was already possible in 1968. That is in itself surprising. Even more surprising however, is that this house has the power to be read as an answer to questions which were first posed after its completion.

Text: Luc Merx und Christian Holl Fotos: Michael Heinrich / Archiv Gillet, Antoon de Vijlder u. a.

Dieses Haus überrascht, nein mehr noch, es irritiert. Verwundern einerseits die offensichtlichen Parallelen zu seit den 90er Jahren entstandenen Entwürfen jener Architekten, für deren Entwurfsarbeit der Computer mehr als nur Ergänzung des Stiftes ist, weisen andererseits Details, Werkstoffe und Bauteile deutlich darauf hin, dass es in den 60er Jahren gebaut wurde. Ebenso erschließt sich über die Form sowie die Wahl und die Behandlung des Materials rasch, dass das Gebäude in einem unmittelbaren Entwurfs- und Bauprozess entstand.
Jacques Gillet ist zwar der Architekt des Hauses, das für die Familie seines Bruders in einem Vorort von Lüttich in einem Einfamilienhausgebiet gebaut wurde. Doch ist das Haus kein Produkt des Architekten allein, sondern eines seiner Zusammenarbeit mit dem Künstler Felix Roulin und dem Ingenieur René Greisch, einer Zusammenarbeit, in der alle drei formale wie konstruktive Entscheidungen getroffen haben. Die Rollen, die aufgrund der Berufsbezeichnungen klar umgrenzt scheinen, gehen fließend ineinander über.
Konzept und Bauprozess Ausgangspunkt des Konzepts war die Idee einer um einen Mittelpunkt organisch verbundenen Dreiteiligkeit aus den Trakten für die Eltern, die Kinder und dem Wohnbereich, die sich selbstverständlich in einer künstlerischen und skulpturalen Form verbinden sollte. Die aus einem Tonmodell, dann aus einem Aluminiumgitter entwickelte Form war die Grundlage der ersten Pläne und die Kontrolle über die Höhenverhältnisse und die Öffnungen. Die Modelle waren auch Ausgangspunkt für Tests, die unter der Leitung von Greisch auf dem Firmengelände des Bauunternehmers durchgeführt wurden. In ihnen hat man getestet, wie dick die Schalen sein dürfen und welche Krümmungen für die Tragfähigkeit der Schalen günstig sind. Dann wurde das Modell in einem Verfahren auf den Bauplatz übertragen, das mit der computergestützten Entwurfslogik und -methodik vergleichbar ist: Das Aluminiummodell ermöglichte es, jeden Punkt in einem dreidimensionalen Koordinatensystem zu definieren. Dieses System wurde skaliert auf den Ort übertragen. Als erstes wurden die Eichungspunkte festgelegt. Dadurch konnte das Modell maßstäblich und mathematisch genau umgesetzt werden.
Nach diesen Vorarbeiten wurde auf dem Grundstück ein 1 : 1-Modell errichtet, an dem nochmals Raumdimensionen und Höhen kontrolliert und festgelegt wurden, bevor dann über der Ortbetonplatte des geneigten Bodens die Bewehrung aufgerichtet wurde. Auch hier wurden noch statische Praxistests durchgeführt, in dem die Durchbiegung der Bewehrung unter der Last von Menschen geprüft wurde und aufgrund der Ergebnisse gegebenenfalls Korrekturen vorgenommen wurden, bevor auf der Bewehrung einseitig ein dünnes, feinmaschiges Gitter befestigt und dann der Beton im Spritzbetonverfahren aufgebracht wurde. Doch nicht nur diese empirische Technik war experimentelles Moment: auch Belichtung und letztlich die Raumwirkung mussten aus Erfahrung, Intuition und durch die am Modell gewonnene Anschauung festgelegt werden.
Mit in diesen Prozess einbezogen waren neben Greisch, Gillet und Roulin auch Studenten Gillets. Man kann das Haus eine Art gestalterisches Forschungsprojekt nennen, bei der die Mitarbeit der Studenten eine wichtige Rolle gespielt hat. Dabei ist im Nachhinein die Rollenverteilung, ähnlich wie in der multiplen Autorenschaft von Roulin, Greisch und Gillet, nicht mehr auszumachen; aufgrund der Äußerungen Gillets kann man sich aber sicher sein, dass das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht vorausgesetzt werden darf. Man kann davon ausgehen, dass diese Konstellation das Anliegen gestärkt hat, das Material präzise und in einer direkt erlebbaren Qualität einzusetzen und etwa Leitungen bis auf die Elektroanschlüsse sichtbar vor den Wänden zu führen. Sichtbar ist auch der Dämmschaum, der dort aufgespritzt wurde, wo die Betonfläche thermische Grenze ist. Er hat sich bis heute unterschiedlich verfärbt und zeigt Gebrauchsspuren, beginnt sich teilweise bereits an einzelnen Stellen zu lösen. Die Wand hat also im Inneren keinen prinzipiell anderen Charakter als außen, auch wenn sich dort die Patinaspuren deutlicher zeigen, sich der Verlauf des ablaufenden Wassers ablesen lässt und Moos und Algen sich über die Formen legen. Diese Wirkung der Patina, die Form zusätzlich zur Wirkung durch Licht und Schatten zu modulieren, war beabsichtigt; gleiches gilt für die unterschiedlichen Formen des aufgebrachten Dämmschaums, bedingt durch die verschiedenen Abstände und Winkel beim Aufspritzen. Das Entstehen einer Patina als zur Gestalt des Hauses gehörend zu betrachten, dokumentiert eine Haltung, die sich gegen die reine weiße Abstraktion einer auf einen idealen Endzustand zielenden klassischen Moderne richtet. So sind andere Parallelen zur Architektur jener Zeit mit dem Verhältnis zu den damals noch wesentlich einflussreicheren Übervätern der Moderne zu erklären, so dass die Behandlung einzelner Bauteile wie etwa der Fenster der von Peter und Alison Smithson an ihrem Upper Lawn Pavillon ähnelt, ohne dass ein solcher Bezug intendiert gewesen sein muss. Gleiches gilt wohl für andere Parallelen. So wurde der Entwurf des Hauses 1965 begonnen, zwei Jahre nachdem sich die Architekturgruppe Architecture principe gebildet hatte, über die Virilio schrieb, dass sie danach strebte, »in schiefen Ebenen ein anderes Verhältnis zum natürlichen Boden und zum künstlichen Boden der Wohnung« zu finden, dass der Mensch kein statisches, sondern ein energetisches Wesen sei und deswegen die Gesamtheit der bebauten Flächen bewohn- und begehbar sein sollten.
Aktualität Doch ist die geschichtliche Betrachtungsweise nur ein Teil der Wahrheit. Genauso wichtig ist das Potenzial, das in diesem Umgang mit Gebäudesubstanz im Zusammenhang mit aktuellen Entwicklungen zu sehen ist. Dass die Patina, das Altern und die Qualität als Produkt einer Zeitspanne, eines zeitlichen Prozesses zu sehen ist, gibt einen Hinweis auf die Chancen, die sich der Architektur dort bieten, wo nicht permanenter Druck sie zwingt, sich in einer ständig neu überschriebenen Umwelt zu behaupten. Dieses Haus ist auch ein Alternativentwurf zur stets propperen und vorzeigbaren Hülle, die als Repräsentanz permanenter Aktualität den Bewohnern nicht die Möglichkeit gibt, sich über eine Dauer mit einem Haus auseinander zu setzen.
Denn auch wie sich seine Bewohnern das Haus angeeignet haben, ist bemerkenswert. Dieser Prozess war herausgefordert worden. Das Haus zwingt zu einem bewussteren Wohnen als in einem Standardhaus. Die neuen Bewohner mussten all ihre Möbel, die sie bereits hatten und mit denen sie eingezogen waren, neu sehen. Andererseits bilden diese Möbel aber auch einen Teil des Kontextes: Das Haus ergänzt die Möbel, so wie die Möbel das Haus ergänzen. Dieser Umgang mit den alten Möbeln der Familie ist eine Form der Ökonomie, wie es eine andere ist, die Patina zum substanziellen Teil des Konzepts zu machen. Vor allem aber im Vergleich mit der durchinszenierten Einrichtung neuerer Avantgardehäuser zeigt sich der Unterschied; deren Möbel eigens für sie entworfen, auf den Fotos sind engagierte Models statt der Bewohner zu sehen. Wird in Lüttich das Angebot zu einem Lebensentwurf eröffnet, mit der Aufgabe an den Benutzer, die Auseinandersetzung zu suchen, liefern diesen neuen Häusern bereits die vollendete und vollendet inszenierte Lösung.
Damit bestätigt sich im Umgang mit dem Haus eines der wichtigsten Anliegen, die Jacques Gillet formuliert: Freiheit zu eröffnen. Die spröde Direktheit der Materialien, der Pragmatismus und die Improvisation, mit der die technischen Installationen behandelt wurden, tragen dazu bei, dem Benutzer die Freiheit zum pragmatischen und improvisierenden Umgang mit dem Haus zu geben. Das unterscheidet es grundsätzlich von der kühlen Abstraktheit, die die Häuser aus Computern auszeichnet, deren endgültige Perfektion sie so statisch macht und in Widerspruch zum Versprechen der Energie und der Bewegung setzt, die das Konzept – etwa das des Möbius-Hauses Ben van Berkels – verspricht.
So sind auch die Hüllflächen in Lüttich mehreres: Ausdruck der Freiheit, sich in der Zeit entwickeln zu dürfen wie Ausdruck radikaler Persönlichkeit; Träger einer künstlerischen Absicht wie Struktur des Gesamtentwurfs, einer Skulptur, deren Inneres bewohnbar ist, bewohnbar aber nicht durch die Aushöhlung, sondern durch die Raumschaffung die sich aus den Krümmungen und Formungen der Ebenen ergeben. Es ist diese Komplexität, die auch das Raumkonzept ausmacht, das in seinen Krümmungen als Einladung zur Bewegung verstanden werden kann. Die spiralen- und S-förmigen Bewegungen, die im dreidimensionalen Raum organisiert werden und bis auf das Dach führen, sind ein Element, das auf die Mitgliedschaft von Gillet zur Gruppe der Friends of Kebyar um Bruce Goff weisen, dessen Entwürfe ebenfalls oft auf der Idee der Spirale aufgebaut sind, dies allerdings meist sehr viel plakativer vorsahen, als dies hier der Fall ist. Die Spiralbewegung ist eine Form, die als esoterischer Verweis auf universale Form- und Bewegungskonzepte den Einklang mit der Natur wachrufen; in der sehr viel verspielteren Entwurfsmethodik von Gillet, Greisch und Roulin ist die esoterische Symbolik aber nur noch unterschwellig wahrnehmbar. Dadurch wird das Haus unendlich in einem direkt wahrnehmbaren Sinn: Was sich hinter einer Krümmung entdecken lässt, ist nicht vorhersehbar.
Während das Haus von Gillet, Greisch und Roulin ein Versprechen ist, dessen Einlösung in die Verantwortung des Benutzers gelegt wird, liefert ein Haus wie das Ben van Berkel schon dessen Erfüllung mit. Er mag damit nicht den Fehler der klassischen Moderne begangen haben, den Menschen für seine Architektur erst erfinden zu müssen: Konsumenten von Allinclusive-Angeboten wie des Möbius-Hauses müssen nicht erfunden werden. Doch stellt sich die Frage, ob der Architekt die Potenziale seiner Arbeit beschneidet, wenn er ihr die Chance eines zeitlichen Prozesses entzieht und die Möglichkeiten der Bewohner beschneidet. Lüttich lehrt: damit die ihre Möglichkeiten nutzen, müssen sie von einer starken Architektur herausgefordert werden – aber eben auch die Möglichkeiten haben, Stellung zu beziehen. Der Bewohner bestätigt die Qualität der Architektur, eine Qualität, die durch seine Stellungnahme zu ihr erst entsteht. L. M., ch
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