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Hochschulgebäude in London von Grafton Architects

Im Austausch
Hochschulgebäude in London

Flechtwerke aus horizontalen und vertikalen Elementen, zueinander versetzt angeordnet, sind ein Markenzeichen der Architektur des Dubliner Büros Grafton Architects. Am neuen Lerngebäude der Universität Kingston-upon-Thames haben sie Balkone, Treppen und Bepflanzung in ein umlaufendes Betongerüst eingehängt, die zusammen mit den Bewegungen seiner Nutzer eine flirrende Collage im Dialog mit der Stadt bilden.

Architekten: Grafton Architects
Tragwerksplanung: AKT II

Kritik: Jay Merrick
Fotos: Dennis Gilbert, Ed Reeve

Als die Architektinnen des neuen Hochschulgebäudes der Kingston University in London, die diesjährigen Pritzker-Preis-Trägerinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell von Grafton Architects, 2018 die Architekturbiennale Venedig kuratierten, wählten sie das Motto FREESPACE. In ihrem Programm betonten sie die »Fähigkeit der Architektur, (ganz ohne Zusatzkosten) mehr zu sein als Raum und Funktion und selbst unausgesprochene Nutzerwünsche bereits vorab zu berücksichtigen (…) Wir möchten über das rein Visuelle hinausgehen und der Architektur in der Choreografie des Alltags eine herausgehobene Rolle zuweisen.«

In umfassender Ausprägung lässt sich die Haltung der Architektinnen erstmals an gleich drei ihrer im Jahr 2015 fertiggestellten Gebäude ablesen: das Institut Mines-Télécom in Paris-Saclay, die Toulouse School of Economics und das spektakuläre, einer Klippe ähnelnde neobrutalistische Universitätsgebäude der University of Engineering and Technology (UTEC) in der peruanischen Hauptstadt Lima (s. auch db 4/2020, S. 6). Deren äußerer Ausdruck wird jeweils vom kraftvoll ausformulierten Tragwerk sowie von Treppenläufen, Terrassen und Balkonen bestimmt.

Diese Elemente finden sich auch in der Gestaltung des 2019 fertiggestellten »Town House« in London wieder. Den Auftrag dafür erhielten Grafton Architects über einen Wettbewerb, bei dem sie sich gegen bekannte Namen wie O’Donnell + Tuomey und Feilden Clegg Bradley Studios durchsetzen konnten. McNamara und Farrell verstehen ihren Entwurf als »direkte Reaktion auf den Wunsch der Universität, Offenheit und Interaktion zu fördern und eine enge Verbindung sowohl zur Studentenschaft als auch zu den Bewohnern von Kingston aufzubauen. Die Aufgabe, eine ›offene Universität‹ im Wortsinn zu bauen – mit vielfältigen Angeboten von Performance über ›entdeckendes Lernen und Lehren‹ bis hin zu stiller (Bibliotheks-) Recherche –, führte uns zur Idee einer dreidimensionalen offenen Matrix aus interagierenden Volumen. Zur Straße hin haben wir das Gebäude mit einer belebten, offenen Seite in Form einer Kolonnade ausgestattet, außerdem gegeneinander versetzte Terrassen und Gärten in der Höhe gestaffelt angeordnet und den ebenfalls neu gestalteten öffentlichen Raum an der Penrhyn Road quer durch das Gebäude geführt.«

Das 9 100 m² Geschossfläche umfassende Town House ist in architektonischer Hinsicht weniger dramatisch als Graftons Universitätsbauten in Frankreich und Peru, doch dafür hat es eine unmittelbarere Beziehung zu seiner Umgebung: Die dem eigentlichen Gebäude vorgelagerte, sowohl klassisch als auch klassisch-modern anmutende Betonstruktur mit ihren Treppen und Balkonen offenbart die Bewegungen der Studenten an der nach Westen weisenden Hauptfront ebenso wie an den Fassaden im Süden und Norden.

Mitten im städtischen Leben

Das Town House liegt auf der östlichen Seite der Penrhyn Road, die aus dem Zentrum von Kingston-upon-Thames nach Süden führt. Eine breite und viel befahrene Straße, flankiert von Bürgersteigen und alten Bäumen. Letztere mildern zumindest visuell die Unruhe, die der Verkehr verursacht. An der nordwestlichen Gebäudeecke geht eine schmale Straße, Grove Crescent, von der Hauptstraße ab und verläuft in einem Bogen entlang der Rückseite des Town House, dann weiter durch einen Teil des Campus der Kingston University. An der Hauptstraße liegt dem Town House das Verwaltungszentrum der Grafschaft Surrey gegenüber, ein großes neobarockes Gebäude von 1893, und etwas weiter die Straße hinauf das ebenso massige Gerichtsgebäude von 1979. Damit steht der Hauptfassade des neuen Lerngebäudes eine sehr städtische Szenerie gegenüber, während die Rückseite auf niedrige Wohnbauten trifft.

Von Norden gesehen überragt das sechsgeschossige Gebäude die alten Bäume auf beiden Seiten der Penrhyn Road. Diese Bäume bilden im Zusammenhang mit dem Freiraumkonzept, das Grafton Architects für die Vorderseite des Town House entwickelten, eine sowohl perspektivisch wirksame als auch raumbildende Synergie zwischen der Straße und dem Gebäude. Wichtigster Bestandteil des Außenraumkonzepts ist die Reihe von zehn neu gepflanzten Bäumen, die sich entlang der Gebäudefront und über einen Teil des benachbarten universitären Muybridge Building erstreckt: Sie bildet eine zweite, eine grüne Kolonnade, die der 4,2 m tiefen steinernen Kolonnade des Town House vorgelagert ist. Der Raum, der dazwischen entsteht, ist erfreulich uneindeutig – ein »freier Raum«, der bereits außerhalb des Gebäudes Graftons Entwurfskonzept offenbart: nämlich ein »offenes räumliches System« zu schaffen, das soziale Interaktion sowohl im Gebäude selbst als auch um sich herum fördert. Die Kolonnade auf der Westseite ist zudem als moderner Portikus konzipiert – als »Eingangstür« über die gesamte Breiteder Fassade, an der sich das akademische Leben mit dem städtischen Alltag verbindet.

Alles andere als ein banales Raster

Dass sich die Treppen und Balkone auf drei Seiten durch die außen liegenden Träger und Stützen emporfädeln, verstärkt diese Intention. Das Tragwerk besteht aus bewehrtem Ort-Stahlbeton, dazu kommen Ziegelmauerwerk, Fensterprofile aus Aluminium sowie Betonfertigteile für die Balkonplatten und Treppenläufe. Die Ortbetonkonstruktion hat eine leicht raue Oberfläche, die an Portland-Sandstein erinnert und damit auf die Fassade des historistischen Verwaltungsbaus verweist. Die Ausbildung der Kolonnade verhilft der Fassade zu einer in mehreren Ebenen gestaffelten Tiefe, die von den Studenten zum Ausruhen, als Wandelgang und als Arbeitsplatz im Freien genutzt wird. Die Außenräume geben zudem bereits einen Vorgeschmack auf die Räume und die Erschließung im Innern. Beim Betreten des Town House öffnet sich ein vier Geschosse hohes Atrium mit Emporen und sechs Treppenläufen, deren Gestaltung die ihrer Pendants im Außenbereich aufnimmt. Im Bereich des Haupteingangs verschwimmt zudem die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Öffentlich und Universitär auf angenehme Weise.

Die Geschossflächen innerhalb des Gebäudes sind zur Hälfte offen konzipiert. Wie schon zuvor haben Grafton eine Collage aus ineinandergreifenden ein- und zweigeschossigen Volumina geschaffen, die weniger rein horizontale, sondern vielmehr »geknickte« Blickbeziehungen eröffnen. Die asymmetrische Anordnung der Treppen und Balkone greift zudem die Verschiebungen und Überschneidungen in den Grundrissen auf. Das wiederum zeigt sich auch in den Fassaden, besonders gelungen auf der West- und Südseite: Stützen und Träger sind in Höhe und Abstand bewusst unregelmäßig angeordnet, was einem zu massigen Ausdruck des Town House entgegenwirkt. Das Rahmenwerk der Hauptfassade etwa ist in drei Stützengruppen aufgeteilt, von denen jede eine andere Gesamthöhe hat. Die horizontalen Balken liegen ebenfalls auf unterschiedlichen Höhen, sodass die gesamte Konstruktion alles andere als ein banales Gitter geworden ist.

Wie handgefertigt

Einige der Details sind so wichtig wie wirkungsvoll, beispielsweise dass die Stützen des Betonrahmens vor der Hauptfassade in leicht nach vorn versetzten Abschnitten in die Höhe wachsen. Auch deren Abmessungen variieren: Jene Stützen, die die Kolonnade auf Straßenniveau bilden, sind 1,1 m tief, die darüber messen 80 cm, und die oberste Stützenreihe ist nur noch 60 cm tief. Dieses Variieren der Bauteile verleiht dem Rahmen gemeinsam mit den sichtbaren Fugen zwischen den Ortbeton-Stützen und -Trägern einen sorgfältig ausformulierten, fast schon handgefertigten Ausdruck. Auf der Südseite liegt im 5. OG ein offener, begehbarer Garten, außen liegende Treppen verbinden einige der Balkone. Drei Balkone umfassen außerdem die Ecken des Gebäudes auf unterschiedlichen Höhen. Höhenversprünge und Verbindungen übereck werden durch Begrünung in Form von horizontalen Pflanzkästen und aufgehenden Rankdrähten zusätzlich betont.

Interessanterweise ist die Wirkung all dieser Balkone, Treppen und Betonbauteile insgesamt eher ungreifbar. Auf den ersten Blick wirkt das vorgestellte Betongerüst monumental und fast schon überwältigend, während die Ziegelfassaden kaum ins Gewicht fallen. Doch wenn man um das Gebäude herumgeht, während im Hintergrund der Verkehr rollt, wird die Funktion der Kolonnaden für den öffentlichen Raum und die Stadt immer deutlicher: Als Ganzes betrachtet entwickelt sich ein architektonisches Bild, das für das Gemeinschaftliche statt für Abgrenzung steht. In letzter Konsequenz vermitteln die Balkone und Treppenanlagen eine ganz simple Idee: nämlich dass man sieht, dass das Town House »belebt« ist, drinnen wie draußen. So können die Studierenden und Lehrenden in die Bäume, auf den Verkehr und die Passanten der Penrhyn Road blicken. Im Gegenzug werden sie auch von Autofahrern und Fußgängern gesehen. Was also auch immer die Studenten denken oder sagen, sie tun es in der Öffentlichkeit – und das ist keineswegs nur eine Geste oder ein übergestülpter Teil der Entwurfsidee.

Blickt man die Westfassade empor, fällt einem ein Satz aus der Broschüre über den legendären »Fun Palace« von Cedric Price und Joan Littlewood aus dem Jahr 1964 ein, eine flexible Konstruktion, in die man immer neu programmierbare Räume hätte einsetzen sollen: »Keine Türen, keine Lobbys, Rezeptionen und kein Schlangestehen: Es liegt an dir, wie du den Raum nutzt (…) Willst du einen Aufstand beginnen oder lieber ein Gemälde – oder dich einfach hinlegen und in den Himmel schauen?« Nach Monaten des Covid-19-Lockdowns und immer neuer Vorschriften wirken die Treppen und Balkone des Town House weniger wie Architektur l’art pour l’art, sondern vielmehr wie ein idealer Rahmen für ein ganz normales Leben.

~Aus dem Englischen von Dagmar Ruhnau


Grundriss EG: Grafton Architects, Dublin
Grundriss 1. OG: Grafton Architects, Dublin
Grundriss 3. OG: Grafton Architects, Dublin
Grundriss 4. OG: Grafton Architects, Dublin
Schnitt: Grafton Architects, Dublin
Schnitt: Grafton Architects, Dublin

  • Standort: Penrhyn Rd, Kingston upon Thames KT1 2EE

    Bauherr: Kingston University
    Architekten: Grafton Architects, Dublin
    Tragwerksplanung: AKT II, London
    Projektmanagement, Kostenplanung: Turner & Townsend, Horsforth
    Haustechnik-, Elektro- und Brandschutzplanung: Chapman BDSP, Kent
    Gesundheits- und Sicherheitsplanung: Turner & Townsend, Horsforth
    Zutrittskonzept: Michael Slattery & Associates, Dublin
    Akustikplanung: Applied Acoustic Design, Staines-upon-Thames
    Signalethik und Leitsystem: Steer Davies Gleave, London
    Landschaftsarchitektur: Dermot Foley, Dublin
    Städtebau: Nathaniel Lichfield & Partners, London
    BGF: 9 100m² ( 10 450 m² mit Balkonen/Terrassen)
    Baukosten: keine Angaben
    Fertigstellung: 2019

Runde um Runde drehte unser Kritiker Jay Merrick um das neue Lerngebäude und erlebte dabei Schicht für Schicht das architektonische Konzept.

~Jay Merrick
In Asien und Kalifornien aufgewachsen. Langjährige Tätigkeit für Architects’ Journal, Blueprint und Le Quotidien de l’Art. Heute Architekturkritiker der Tageszeitung The Independent. Beiträge für Monografien über Grimshaw Architects, schmidt hammer lassen, Wilkinson Eyre Architects und Arup Associates.


Grafton Architects

Yvonne Farrell
Architekturstudium am University College Dublin, 1976 Diplom. 1976-2006 dort Lehrauftrag, seit 2015 Professur. Seit 1978 Büro mit Shelley McNamara. Lehraufträge u. a. an der École Polytechnique Fédérale, Lausanne, und Accademia di Architettura, Mendrisio.

Shelley McNamara
Architekturstudium am University College Dublin, 1976 Diplom. 1976-2006 dort Lehrauftrag, seit 2015 Professur. Seit 1978 Büro mit Yvonne Farrell. Lehraufträge u. a. an der École Polytechnique Fédérale, Lausanne, Accademia di Architettura, Mendrisio.


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