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Sinnlich gebaut - Grundschule und Wohnhochhaus in London

Sinnlich gebaut
Grundschule und Wohnhochhaus in London

Durch die gleiche robuste Materialisierung zeigen sich Schule und Wohnhochhaus als Bauensemble, stilistisch jedoch gehen sie unterschiedliche Wege: skandinavisch angehaucht die Schule und mitunter die Baugeschichte zitierend das Wohnhochhaus. Die vermeintlich konträren Ansätze bereichern einander nicht nur, sondern schlagen gemeinsam auch noch eine Brücke zwischen privatem und öffentlichem Raum.

Architekten: Henley Halebrown
Tragwerksplanung: Techniker

Kritik: Jay Merrick
Fotos: Nick Kane

Simon Henley und sein Büro Henley Halebrown entwerfen Gebäude in London, deren monumentaler Charakter eine ungewöhnlich stark ausgeprägte plastische Außenwirkung aufweist. Chadwick Hall an der University of Roehampton in London, drei Studentenwohnheime mit einer tief eingeschnittenen Fassadengliederung, wurde 2018 für den Riba Stirling Prize und 2019 für den EU Mies Award nominiert. Die drei Gebäude vermitteln auf den ersten Blick den Eindruck von Massivität, Beständigkeit und einer sehr robusten Bauweise im Stil des 19. Jahrhunderts.

Das Projekt 333 Kingsland Road, das 2020 fertiggestellt wurde, ist noch ausdrucksstärker. Hier werden eine Grundschule und ein Wohnhochhaus in einem Ensemble zusammengefasst, das am stärksten durch die Art und Weise gekennzeichnet ist, wie die Fassaden des Wohnhochhauses in die Tiefe gestaffelt sind – dies betrifft sowohl die Grundrisse als auch die Ansichten. Es ist das bemerkenswerteste große Projekt von Henley Halebrown, sowohl baulich als auch konzeptionell.

Anschaulich

Auf einer Architekturkonferenz, die kürzlich an der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien stattfand, bezeichnete Simon Henley die Entwurfsgedanken Buckminster Fullers zu einer geodätischen Kuppel in Manhattan aus dem Jahr 1968 als den Beginn einer von Technologie bestimmten Entwicklung der Art und Weise, wie Architekten über Fassaden denken: »Heute bestehen Wände aus einer komplexen Konstruktion, die sich aus abstrakten und nicht erkennbaren technischen Systemen zusammensetzt. Das Gefüge besteht nicht aus Materie an sich, sondern aus einer Vielzahl von technischen Funktionen.«

Simon Henley meint dazu, dass sich »die Überlegungen, die diesen abstrakten Elementen zugrunde liegen, weit von den sinnlichen und wahrnehmbaren Aspekten des Bauens entfernt haben und dadurch verwendete Materialien nicht angemessen eingesetzt werden können.« Er ist der Ansicht, dass große Gebäude, v. a. im Wohnungsbau, so gestaltet werden sollten, dass ihre Nutzung und ihre Einbindung in die Umgebung mit all ihren Aktivitäten möglichst offensichtlich sind.

Die Schule und das Wohnhochhaus liegen an der Ecke der Downham Road und der verkehrsreichen Kingsland Road in einem ehemals ärmeren Teil Londons, der eine zunehmende Gentrifizierung erfährt. Etwa 300 m nördlich des Ensembles befindet sich eine elegante geschwungene Reihenhauszeile aus dem 18. Jahrhundert, und gegenüber liegt das ehemalige Metropolitan Free Hospital von 1886 mit dekorativem Mauerwerk, Balkonen und hervortretenden steingerahmten Fenstern.

Bedauerlicherweise werden diese Bauten von der kürzlich direkt gegenüber der Kingsland Road 333 errichteten Ability Plaza, bei der sowohl Bauvolumina als auch unterschiedliche Architekturelemente recht verunglückt aufeinanderprallen, in den Hintergrund gedrängt. Hunderte solcher Gebäude – hässlich, kontextlos, vermeintlich trendy und sehr profitabel – entstanden in den letzten 20 Jahren in London.

Vielgestaltig

Das Bauensemble an der Kingsland Road umfasst ein 11-stöckiges Wohnhochhaus, dessen Grundfläche von Henley Halebrown Architekten durchdacht minimiert wurde, und ein neues Schulgebäude für 350 Grundschüler, das dadurch dreistöckig kreuzgangartig um einen großen zentralen Pausenhof realiert werden konnte. Die Architektur des Schulbaus hat einen kühlen, ruhigen, eher nordeuropäischen Charakter. Offene Galerien umschließen den Innenhof und ermöglichen so eine platzsparende Organisation und optimale Belichtung der Geschosse – gänzlich ohne innen liegende Flure, mit einer direkten Verbindung zwischen innen und außen. Während sich in den Klassenräumen Sitzgelegenheiten in den tiefen Nischen der außenbündig eingebauten Fenster befinden, fanden draußen wiederum Bänke aus Betonfertigteilen im Brüstungsbereich der großen, innen wandbündigen Fenster ihren Platz. Das ist clever, ökologisch und sozial.

Die doppelgeschossige Schulaula im EG kann kann über verglaste Bereiche des Lehrerzimmers im 1. OG überblickt werden. Decke und Wände der Aula werden von einem sichtbaren Betonskelett gefasst. An der Außenseite ihrer Ostwand kragt ein überhoher Stahlbetonträger aus, um die Lasten der Überdachung der Außentreppe vom EG zum 1. OG aufzunehmen und dazu noch den Aufstieg optisch »einzurahmen«.

Die Dachfläche auf der Südseite der Schule dient als Außenraum und verfügt über eine außergewöhnlich über die Dachkante auskragende Toilette – eine Neuauflage einer ähnlich neckischen Toilette, die Henley während seiner Studienzeit entworfen hatte. Ein ebenso unerwartetes und gelungenes architektonisches Detail findet sich an der Nordostecke des 1. OGs: Die Wände des zweigeschossigen Musikübungsraums weisen – wie die meisten anderen Innenräume – Oberflächen aus weiß gestrichenen Gipskartonplatten und Sichtbeton auf. Weiter oben, unterhalb eines Oberlichts, ist der Beton jedoch im Rotton der Außenfassaden gestrichen; die Atmosphäre in diesem hohen, engen Raum ist fast klösterlich.

Das Metallschultor von Künstler Paul Morrison, mit Löwenzahn und Spinnennetzmotiven gestaltet, wirft abstrakte Muster auf den Boden des Eingangsbereichs, der sich unter der Bodenplatte des außen liegenden Spielbereichs im 1. OG befindet. Zu ihm führt die hier antretende Treppe durch eine elegant kreissegmentförmige Deckenöffnung hinauf. Auch die schimmernden elfenbeinfarben glasierten Ziegel der Fassaden rund um den Pausenhof sind von hier bereits zu sehen. Die sie begleitenden, teilweise verglasten Vordächer sind eine Hommage an Erik Gunnar Asplunds Überdachungen auf dem Stockholmer Waldfriedhof (realisiert 1917–1940).

Überleitend

Die Schule und die Eingangstore sind nach Süden auf den Gehweg der Downham Road ausgerichtet. In die Backsteinfassade ist eine lange Betonbank integriert, die von Passanten genutzt werden kann. Dies verleiht der gesamten Straßenfront der Schule einen einladenden, bürgerschaftlichen Charakter.

Der gesellschaftliche Aspekt kommt in der Gestaltung des Wohnhochhauses noch deutlicher zum Ausdruck. Hier wurde die äußere Fassadenebene als ruinenartige Struktur konzipiert, die die funktionalen Innenfassaden umgibt. Im Großen und Ganzen könnte man diesen Ansatz mit der den eigentlichen Fassaden vorgelagerten Struktur des Town House von Grafton Architects an der Kingston University vergleichen (siehe db 09/2020, S. 48-54).

Die Ausbildung der beiden Fassadenschichten erzeugt Tiefe, Licht- und Schatteneffekte und verbindet das Leben der Menschen innerhalb und außerhalb des Gebäudes. Das erste Mal verfolgte Henley diesen Ansatz bereits 2013 in seinem Entwurf für einen 21-stöckigen Sozialwohnungsblock, dessen Wohnungen hinter einer aus drei Geschosse hohen Bögen bestehenden »Ruinenstruktur« liegen sollten.

In Teilen diente die tschechische kubistische Architektur als Inspiration für die Fassadengestaltung des Wohngebäudes. Sie besteht aus einer Ortbetonstruktur, deren Abschnitte in zweigeschossigen Segmenten bis zu einer Loggiaebene mit Dachterrasse emporwachsen. Ein Drittel des Freiraums dort oben steht den Bewohnern der 68 Sozialwohnungen zur Verfügung, die anderen beiden Drittel den Eigentümern der drei Maisonettewohnungen.

In der äußeren Fassadenebene erheben sich rings um die Wohnungen riesige Pfeiler vom Boden über die mit Deckenkassetten dekorierten Arkaden und das Gesims im EG bis hinauf zur krönenden Loggia. Wie die anderen Sichtbetonbauteile bestehen auch die Querträger aus Ortbeton mit einer Zuschlagsmischung aus rotem Sand und Sandstein (inklusive passendem Fugenmörtel), was den Fassaden eine recht körnige und geradezu unechte Oberflächenwirkung verleiht. Die markante Überlagerung der Fassaden lässt an Gebäude wie das Kaufhaus der Schwarzen Madonna in Prag (1912) von Josef Gočár denken.

Verdreht

An der Basis der Süd- und Ostseite des Gebäudes sind die Arkaden recht tief und zugänglich, nicht so an der Nordseite, wo die Säulen sehr dicht an den Glasfronten der im EG untergebrachten Ladeneinheiten stehen. Diese Enge ist z. T. auf einen weiteren ungewöhnlichen Aspekt des Entwurfs zurückzuführen: Im Grundriss sind die südwestlichen und nordöstlichen Ecken des Gebäudes gestaucht und verdreht, um Radien zu schaffen, die eine diagonale Anordnung der Wohnungen mit doppelter Größe ermöglichen.

Im Inneren fällt v. a. das achteckige zentrale Treppenhaus auf, das pro Umdrehung 12 Teilflächen aufweist. Das ist sehr stimmungsvoll und erinnert an die plastischen geometrischen Gesimse des Prager Wohnblocks Hodek von Josef Chochol aus dem Jahr 1914; schade, dass der Bauunternehmer, der ansonsten gut arbeitete, nicht in der Lage war, den Ortbeton sauber auszuführen; ein oder zwei der äußeren Gesimsfugen sind außerdem leicht schief.

Es ist bewundernswert, wie das Büro gesellschaftliche Intentionen des Projekts und die beiden unterschiedlichen architektonischen Stile miteinander in Einklang gebracht hat. Wie Simon Henley an der KU Leuven sagte: »Das Vermögen einer Fassade, uns naturgegebene Phänomene zu veranschaulichen – Bewusstsein erzeugt Gewissen –, steht im völligen Gegensatz zu der vorherrschenden technokratischen Haltung zu unserer Umwelt und dem amoralischen Konsum von Gebäuden und Raum.«

Welch eine Ironie, dass die Schule ausgerechnet Henley Halebrown gebeten hat, den Kindern beim Bau einer kleinen geodätischen Kuppel auf dem Oberdeck zu helfen. Das Bauwerk wird sicherlich von Buckminster Fullers Geist interessiert untersucht werden, über die »Ruinen« nebenan jedoch wird er sich wohl ziemlich wundern.

Aus dem Englischen von Martin Höchst


Für unseren Kritiker Jay Merrick (links, bei der Projektbesichtigung mit Simon Henley) hat das Wohnhochhaus etwas im positiven Sinne Ruinenhaftes: Die Gliederung und Tiefe der Fassade veranschaulicht die Prinzipien seiner Bauweise, wie es auch bei den offen gelegten Resten eines zerfallenden Gebäudes der Fall ist.


  • Standort: 333 Kingsland Road, GB-London E8 4DR

    Bauherr: Downham Road Ltd; Education Skills and Funding Agency; The Benyon Estate; Thornsett; Hackney New School Academy Trust
    Wohnungsvermietung: Dolphin Living
    Architekten: Henley Halebrown, London
    Tragwerksplanung: Techniker, London
    Haustechnikplanung: MEP Engineer: Elementa, London
    Projektmanagement: QS RLB, London
    Akustikplanung: Pace Consult, Colchester
    Landschaftsarchitektur: Tyler Grange, Rendcomb
    Pflanzungen: Jennifer Benyon Design, London
    Kunst am Bau: Paul Morrison, Sheffield
    BGF: 8 500 m² (6  500 m² Wohnen, 1 735 m² Schule, 300 m² Gewerbe)
    BRI: 35 698 m³ (25 736 m³ Wohnen, 8 610 m³ Schule, 1 352 m³ Gewerbe)
    Baukosten: ca. 31 Mio. Euro
    Bauzeit: Oktober 2017 bis September 2019 (Schule); Oktober 2017 bis Juni 2020 (Wohnturm)
  • Beteiligte Firmen:
    Generalunternehmer: Thornsett Structures, London
    Vorhangfassade, Fenster, Schiebetüren: Reynears, Duffel
    Holz-Aluminium-Fenster Schule: Velfac, Horsens
    Vormauerziegel, Ziegelwände und vorgefertigte ziegelbekleidete Elemente: Wienerberger, Wien
    Glasierte Vormauerziegel, Ziegelwände Schulhof: Klinker Covadonga, Muriedas
    Betonfertigteile, rot pigmentiert: Creagh Concrete, Antrim
    Metallbauteile, pulverbeschichtet: Alpine Group, Andover
    Bodenbelag Schule, Nagelfilz und Linoleum: Forbo, Baar
    Beleuchtung außen und innen: Clearvision Lighting, Tonbridge

 

Henley Halebrown


Simon Henley

Seit 1995 Büro mit Gavin Hale-Brown. Autor von The Architecture of Parking und Reading Brutalism. Lehrauftrag an der Kingston University. Gastdozent an der University of Moratuwa, Sri Lanka.


Gavin Hale-Brown

1986-92 Architekturstudium an der University of Liverpool. Mitarbeit bei Kinemura Associates, Japan. 1995 Mitarbeit bei Simon Henley, seit 1997 als Partner. Lehraufträge am Yonago National College of Technology, Japan und an der Bartlett School of Architecture, London


Jay Merrick

In Asien und Kalifornien aufgewachsen. Langjährige Tätigkeit für Architects` Journal, Blueprint und Le Quotidien de l´Art. Heute Architekturkritiker der Tageszeitung The Independent. Beiträge für Monografien über Grimshaw Architects, schmidt hammer lassen, Wilkinson Eyre Architects und Arup Associates.

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