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Dörflich zentral

Integratives Mehr-generationen-Wohnen in Bochum
Dörflich zentral

Die Vorzüge dörflichen Zusammenlebens haben Bestand, jedenfalls innerhalb der Stadt. Die Matthias-Claudius-Höfe in der Bochumer Innenstadt – als Modell integrativen und energiesparenden Mehrgenerationen-Wohnens mehrfach preisgekrönt – sind sowohl funktional als auch stadtplanerisch an der Struktur eines Dorfs orientiert. Gerade angesichts demografischer Entwicklungen hat das Projekt damit Vorbildcharakter.

    • Architekten: Heinle, Wischer und Partner

  • Kritik: Frank Maier-Solgk Fotos: Roland Halbe
Die Grundzüge eines Dorfs sind für den Besucher der Matthias-Claudius-Höfe schnell wahrnehmbar: 2-4-geschossige Gebäude fassen einen Marktplatz mit einer großen Platane. Hier, wo sich die Wege des Quartiers kreuzen, finden auch verschiedene soziale und gewerbliche Einrichtungen des gemeinschaftlichen Lebens ihren Platz: eine Kapelle, nebenan der Gemeinschaftssaal, dahinter etwas abseits ein Hotel, ein italienisches Restaurant sowie ein Café als zentrale Anlaufstelle, einzelne Ladengeschäfte wie Friseur, Wäscherei oder Fahrradladen.
Verschiedene Gebäudetypen mit jeweils unterschiedlichen Wohnformen – konventionelle Geschosswohnungen, Gemeinschaftswohnungen, Stadthäuser mit Garten – und öffentliche Einrichtungen besetzen die vier Baufelder des rund 10 000 m² großen Areals. Gebäude und Wege leiten angenehm unaufgeregt in die Straßen der Umgebung über. Diese gewissermaßen einfache Haltung durchzieht das gesamte Projekt und macht gerade dadurch seine Zielsetzung offenkundig: Statt eine sterile Wohnsiedlung irgendwo am Stadtrand zu bauen, soll vielmehr innerhalb eines urbanen Gefüges ein sozialräumlicher Mikrokosmos geschaffen werden, der dem Gemeinschaftsgedanken verpflichtet ist.
Teilhaben und Mitreden
Die heutige soziale Mischung der Bewohnerschaft (ca. 30 % geförderte Mietwohnungen) ist das Ergebnis eines Prozesses, der mit dem heutzutage viel diskutierten Inklusionsgedanken begann. Auslöser war eine private Initiative von Eltern, die für ihre behinderten Kinder nach deren Schulabschluss ein integrativ-gemischtes Wohnmodell als Alternative zu Heim oder Elternhaus erproben wollten. Gesucht wurde dafür keine ländliche Idylle, sondern ein stadtnaher Standort. Eine städtische, vormals als Parkplatz eines Fuhrparks genutzte Brachfläche in Bahnhofsnähe erwies sich schließlich als geeignet und wurde vom Matthias-Claudius Sozialwerk erworben. 2007 erfolgte ein geschlossener Wettbewerb unter neun Büros, den Heinle, Wischer und Partner Architekten gewannen; ein weiterer Wettbewerb zum Energiekonzept schloss sich an. 20 % der Kosten von 22 Mio. Euro brachten zwei lokale Stifter auf, die dadurch erst die Realisierung ermöglichten. Knapp die Hälfte des Grundstückspreises nahmen der Rückbau der Flächenversiegelung und die Geländesanierung in Anspruch. Die Bauherrschaft des Projekts übernahm das Sozialnetzwerk, ›
› das bereits als Träger zweier integrativer Schulen in Bochum über entsprechende Erfahrungen verfügte und heute den Betrieb der Höfe organisiert.
Kennzeichnend für die Entwicklung des Projekts war v. a. der intensive Dialog zwischen Architekten, Bauherrn und Eltern. Die Entwicklung von Gebäudeformen und Grundrissen orientierte sich dabei stets eng am angestrebten Wohnungsangebot, erfuhr jedoch immer wieder Anpassungen an die sich verändernde Gesamtkonzeption. Die Architekten, die darüber hinaus auch externe wissenschaftliche Beratung (u. a. der Universitäten Dortmund und Bochum) einholten, übernahmen dabei die Moderation. Das Ergebnis dieses aufwendigen Prozesses zeigt sich heute als pragmatische, offene und von christlich-humaner Weltanschauung geprägte Vorstellung von integrativem Wohnen. So setzen sich die derzeit 180 Bewohnern des »Dorfs« aus Familien mit Kindern, Alleinstehenden, älteren Ehepaaren, Studenten sowie ca. 30 Behinderten zusammen. Letztere leben überwiegend in ambulant betreuten Wohngruppen, in sogenannten Loftwohnungen. 15 Stadthäuser und ca. 40 um einen Innenhof angeordnete Geschosswohnungen mit Balkonen, darunter zehn Studentenapartments in zwei Wohngemeinschaften runden das Angebot ab. In jeder der Wohnformen sind auch rollstuhlgerechte Varianten verwirklicht worden. Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Anwohner, aber nicht nur für sie, bieten sowohl das Hotel und die Gastronomiebetriebe vor Ort als auch weitere externe Einrichtungen der Matthias-Claudius-Stiftung. Das Quartier ist somit weder eine ausschließliche Wohnsiedlung noch eine autarke Insel, die sich gegenüber der Umwelt abschottet.
Schwellen- und schnörkellos
Vielleicht das hervorstechendste gestalterische Merkmal ist die von den Architekten konsequent verfolgte Einbindung in das städtische Umfeld, die mit der schlüssigen Fortführung des umgebenden Wegesystems sowie der Maßstäblichkeit der ergänzten Gebäude in sensibler Weise geleistet wurde. Im Hinblick auf die gemeinschaftliche und gewerbliche Nutzung großer Teile der EGs führen die Höfe den kleingewerblich-handwerklich geprägten Charakter des Viertels fort. Mit einiger ›
› Wahrscheinlichkeit lässt sich – trotz Bevölkerungsrückgang der Ruhrgebietsstadt Bochum – eine Belebung und Aufwertung des gesamten Viertels vorhersagen, das in den letzten Jahrzehnten hinter dem Bochumer Hauptbahnhof ein Schattendasein führte.
Die bauliche Gestaltung der Claudius-Höfe zeigt sich recht nüchtern und sachlich und setzt damit keine architektonischen Ausrufezeichen: Die vorherrschende vertikale Fassadenordnung mit schmalen, stehenden Fensterformaten sowie das Farbkonzept mit einer grau-sandfarbenen Palette zeigen sich in einer reduzierten Gestaltungssprache, die ruhig noch etwas variantenreicher hätte ausfallen können. Allerdings war es für die Architekten – in Anbetracht der zahlreichen unterschiedlichen Fassaden – sicherlich eine der größten Herausforderungen im Diskurs mit dem Bauherrn ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vielfalt und Einheitlichkeit zu finden.
Nicht alle architektonischen Vorstellungen zum gemeinschaftlichen Leben konnten realisiert werden. So wurde auf die ursprünglich vorgesehenen Laubengänge an der Hofseite der Geschosswohnungen zugunsten weniger allgemein zugänglicher Eckterrassen verzichtet – eine visuelle wie funktionale Einschränkung. Auch der symbolträchtige »Energieturm« am Marktplatz, der als Wetterstation, Energieverbrauchsanzeiger und Litfaßsäule für das Quartier geplant war, ließ sich aus Kostengründen nicht realisieren. Ein Kirschgarten und der von einem Klostergarten inspirierte »Garten der Stille« zwischen Kapelle und Hotel stellen zwar kleine grüne Oasen dar, warten jedoch noch auf eine intensivere gärtnerische Gestaltung. Angenehm bemerkbar machen sich dagegen die als Mischverkehrsfläche ausgewiesenen barrierefreien Wege und Plätze ohne jegliche Bordsteine.
Innovativ und solide
Ebenso konsequent wie die sozialräumlichen Qualitäten der Matthias-Claudius-Höfe wurde deren ressourcenschonendes Energiekonzept verfolgt, das auf den Säulen Solarthermie, Photovoltaik und der städtischen Fernwärme fußt. Dabei erfolgt die Versorgung der Gebäude über ein Nahwärmenetz mit dezentralen Solarspeichern. Im Ergebnis erfüllen sämtliche Gebäude die Anforderungen des 3-Liter-/Kfw-55-Standards, sieben der Stadthäuser sogar den Passivhaus-Standard. Die Gebäude selbst sind konventionell in Stahlbeton-Skelettbauweise ausgeführt, mit Kalksandsteinmauerwerk ausgefacht und mit einem Wärmedämm-Verbundsystem umhüllt.
Als »Ort des Fortschritts NRW« 2013 zu recht ausgezeichnet, sind die Höfe in hohem Maße Anschauungsobjekt für eine zukunftsfähige Umgehensweise mit den Themen Inklusion und Mehrgenerationen-Wohnen. Städtebaulich überzeugt das Projekt sowohl durch seine zum städtischen Kontext vermittelnde Qualität als auch durch die Aufteilung und Arrondierung bebauter und unbebauter Flächen sowie durch seine ausgewogene Nutzungsmischung. Dass dieses moderne Dorf in der Stadt angenommen wird, steht außer Frage. Die Warteliste für eine der Wohnungen hier ist lang. •
  • Standort: Claudius-Höfe, 44789 Bochum

    Bauherr: Matthias-Claudius Sozialnetzwerk Bochum e.V.
    Architekten: Heinle, Wischer und Partner, Dresden
    Projektleitung: Sibylle Stiehler
    Bauleitung: Tobias Maschke
    Tragwerksplanung: Ingenieurbüro Horn und Horn, Neumünster
    Landschaftsarchitektur: Rehwaldt Landschaftsarchitekten, Dresden
    Energiekonzept: Planungsbüro GRAW, Osnabrück
    Bauphysik: IGRT , Bochum
    Brandschutz: Brandschutzplanung Klingsch, Düsseldorf
    BGF: 14 600m² BRI: 45 855m³
    Bauzeit: Juli 2009 bis Dezember 2012
    Gesamtbaukosten: ca. 15,5 Mio. Euro
    Auszeichnungen: BMWi-Preisträger »Energieoptimiertes Bauen – Architektur mit Energie« der Forschungsinitiative EnOB, 2009; Auszeichnung »Orte des Fortschritts 2013/2014« des Landes Nordrhein-Westfalen, 2013
  • Beteiligte Firmen: Mauerwerk: Kalksandstein, Hannover, www.kalksandstein.de
    Fenster: Blue Evolution, Salamander, Türkheim, www.kalksandstein.de
    Dachdichtungsbahnen: Sikaplan, Sika, Stuttgart, http://deu.sika.com Elektroschalterprogramm: E2, Gira, Radevormwald, www.kalksandstein.de
    Fliesen: ABK, Finale Emilia, www.kalksandstein.de
    Solaranlage: SOLARroof, Wagner & Co, Cölbe, www.kalksandstein.de
  • 1 Quartierstreff
  • 2 Dienstleistungen
  • 3 Wohngemeinschaften / Lofts
  • 4 Stadthäuser
  • 5 Gastronomie
  • 6 Quartiers-Café, Rezeption Hotel
  • 7 Gewerbe / Ladengeschäfte
  • 8 Hotel
  • 9 Kapelle
  • 10 Gemeinschaftssaal
  • 11 Marktplatz
  • 12 Obsthof
  • 13 Garten der Stille
  • 14 Mietergärten
  • 15 Kirschhain
  • 16 Zufahrt Tiefgarage

Bochum (S. 42)

Heinle Wischer und Partner


Edzard Schultz
1962 in Bad Segeberg geboren. 1982-88 Architekturstudium an der TU Berlin. Seit 1989 Mitarbeit bei Heinle, Wischer und Partner, seit 1995 als Partner und seit 2007 als Sprecher des Gesamtbüros.
Frank Maier-Solgk
1959 in München geboren. Studium von Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in München und Heidelberg, Promotion. Zahlreiche Publikationen zu den Themengebieten Architektur, Städtebau, Gartenkunst sowie Kunst- und Kulturgeschichte. Freier Journalist, Buchautor und Texter in Düsseldorf und München.
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