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Mit dem »Dorotheen Quartier« macht sich Stuttgarts schick

Stuttgart macht sich schick
Das »Dorotheen Quartier« in Stuttgart

Überraschend aber wahr: Ausgerechnet einem aus drei Häusern komponierten Luxus-Kaufhaus gelingt es, das Zentrum von Stuttgart stadträumlich aufzuwerten. Doch welches Bild von Stadt entsteht durch diese innerstädtisch gelegenen Neubauten zwischen Markthalle und Karlsplatz?

Architekten: Behnisch Architekten
Tragwerksplanung: Knippers Helbig; Mayer-Vorfelder und Dinkelacker

Kritik: Hans-Jürgen Breuning
Fotos: David Matthiessen; Martin Baitinger

Gerade die Chronologie dieses Projekts ist aufschlussreich, denn schon zu Beginn gab es erstaunlich ambitionierte Pläne: »Wir wollen Weltstadt sein, dann müssen wir uns auch so verhalten!«, so hatte Willem G. van Agtmael, der damalige Chef des Stuttgarter Traditions-Kaufhauses Breuninger 2007 die ersten Konzepte für das neue Quartier zwischen der Stuttgarter Markthalle und dem Karlsplatz vorgestellt. Als dann im Juli 2008 die ersten Zeichnungen für das sogenannte Da Vinci Projekt präsentiert wurden, mussten besonders die Noch-Nicht-Weltstädter genau hinsehen: Das Amsterdamer Büro
UN Studio, in Stuttgart durch den Bau des Mercedes-Benz-Museums bekannt, hatte ein auf zwei mächtige städtische Blöcke verteiltes, dynamisch abgeschrägtes, in Richtung Charlottenplatz steil aufragendes Ensemble entworfen, das mit seiner futuristisch-expressiven Architektur wie ein gigantisches städtebauliches Ausrufezeichen wirkte.

Mit seinen 50 000 m2 oberirdischer Geschossfläche, die im Zuge dieses »Nachverdichtungsprojekts« entstehen sollten und seiner schieren Größe stellte das prächtig inszenierte Luxus-Quartier die Maßstäblichkeit an diesem Ort plötzlich infrage. Selbst der überaus robuste Betonbrutalismus der gegenüberliegenden Kaufhausfassade von

Breuninger aus den 60er Jahren hatte diesem selbstbewussten Neubau nichts entgegenzusetzen. Doch noch war nichts entschieden: Ein Architektenwettbewerb mit elf international renommierten Teilnehmern wurde für das »Quartier am Karlsplatz« ausgelobt. Auch hier reichte UN Studio einen Entwurf ein, doch das Stuttgarter Büro Behnisch Architekten errang im März 2010 den 1. Preis.

Vor dem Wettbewerb hatte es noch keinen Bebauungsplan für das Quartier gegeben – dieser wurde erst jetzt, auf Basis des Wettbewerbsentwurfs aufgestellt. Zunächst folgten die Wettbewerbssieger noch der Gliederung auf lediglich zwei städtische Blöcke und auch das 2008 vorgesehene Fünfsternehotel blieb im Quartiersportfolio erhalten.

Schwierige Geburt

Während jedoch das Land Baden-Württemberg in einer ersten Phase noch an diesem Bauvorhaben beteiligt war, plante Breuninger ab 2011 allein. Nun konnte das Kaufhaus auf dem benachbarten Grundstück ganz »nach seinen Vorstellungen bauen« – der Flächenabriss sämtlicher Bestandsgebäude schien ohnehin schon beschlossene Sache. Doch genau dagegen regte sich Widerstand: V. a. über das zwischen 1937 und 1945 als Gestapo-Zentrale genutzte Hotel Silber in der Dorotheenstraße, das in der ursprünglichen Planung abgerissen werden sollte, wurde noch im selben Jahr heftig diskutiert. Nicht etwa das Land hatte als Eigentümer des Gebäudes einen Stimmungswandel herbeigeführt, sondern vielmehr eine privat organisierte Bürgerinitiative. Statt für eine Einbindung als Gedenkstätte entschieden sich Stadt und Land schließlich für den Erhalt des 1944 teilweise zerstörten Neo-Renaissance Gebäudes.

Damit stand jedoch die entscheidende Frage im Raum, ob der Entwurf von Behnisch Architekten diese Anpassungen überhaupt erlauben würde – oder ob nun ein radikaler Neustart erforderlich sei? Die Antwort mussten die Architekten mit dem Investor finden – jetzt erst wurde das eigentliche Dorotheen Quartier geboren. Und diese schwierige Geburt hat dem neuen Quartier ganz gut getan. Nicht nur, weil das Hotel Silber als Gedenkstätte erhalten werden konnte, sondern besonders auch deshalb, weil das Überdenken des Entwurfs und die damit einhergehende Reduktion der Geschossfläche auf 38 250 m2 zu einer spürbaren Annäherung an die Körnung der Stadt, ihren vorhandenen Räumen und Dimensionen führte. Überzeugend dokumentiert sich dies in der Gliederung der Kubatur auf drei Häuser, mit der die Architekten den historischen Stadtgrundriss wieder aufnehmen.

Aufwertung des Stadtraums

Auf die zentrale Frage, wie im Dorotheen Quartier ein Stück neue Stadt entstehen kann, haben die Architekten mit ihren drei Gebäuden eine sehr eigenständige Antwort gegeben. Die bislang eher abweisende und als Rückseite empfundene Breuninger-Fassade zum Karlsplatz werteten sie auf, ergänzten sie im EG mit neuen Anbauten, die sich mit geschwungenen Dächern zum Stadtraum öffnen. Damit rückt der bisher ziemlich trutzig wirkende Breuninger-Altbau deutlich näher an die Neubauten heran, innen und außen werden neu gedacht, das Visavis wird erlebbar. Besonders wichtig ist dabei die aufgeweitete Sporerstraße, die über die Münzstraße hinweg zum Vorbereich der Markthalle erweitert wurde. Als eine der wenigen belebten Querspangen Stuttgarts bringt sie die gewünschte Urbanität an diesen Ort. Schade nur, dass dieser neue Stadtraum gleich vor der Holzstraße, einer direkt angrenzenden großen Verkehrsader, sein abruptes Ende findet.

Drei Neubauten und der öffentliche Raum

Nähert man sich den asymmetrisch geformten Neubauten, wird man zunächst auf die schräg geschnittenen Laibungen der vorgehängten, beigefarbenen Kalksteinfassaden aufmerksam, die im Wechsel mit den stark gefalteten Aluminiumfassaden ein plastisch-modelliertes Bild des gesamten Quartiers zeichnen. Ihr freies Spiel gegen die strenge Vertikale findet seine Fortsetzung bei den anthrazitfarbenen Fensterprofilen. Hinter den Fassaden verbirgt sich ein etwa 4,5 m hohes EG mit großformatigen Glasflächen für die 20 Luxusgeschäfte, die ganz bewusst aus dem Straßenraum über jeweils eigene Eingänge erschlossen werden und die sechs »feinen Küchen« der Gastronomie. Die durchgängig gestaltete, vertikal angebrachte Beschilderung trägt zur einheitlichen Sprache dieser Sockelzone bei.

Die Straßenzüge des Quartiers sind – mit Ausnahme der neu geschaffenen Eduard-Breuninger-Straße – öffentlich geblieben. Gerade deshalb fällt auf, dass öffentliche Stadtmöbel komplett fehlen. Dies ist zwar teilweise der notwendigen Feuerwehrzufahrt geschuldet, doch Sitzgelegenheiten waren weder vom Investor noch von den Gastronomen erwünscht. Wer sich hinsetzen möchte, muss dafür eine feine Küche aufsuchen. Perfekt zu dieser Haltung passen die flugs aufgestellten, ästhetisch äußerst holprigen Holzpalisaden vor dem Restaurant Sansibar: Werden die Luxus-Shopper hungrig, können sie dort ihr streng umzäuntes »Separee« aufsuchen.

In den Obergeschossen befinden sich klassisch organisierte Büroetagen mit Zellenbüros, in denen sich auf einer Fläche von rund 25 000 m2 v. a. die Landesministerien eingemietet haben, und – konzentriert auf ein Gebäude – die 19 exklusiven Mietwohnungen, die zusammen über ca. 3 000 m2 (!) verfügen. Doch wo sind sie eigentlich? Beim steilen Blick nach oben erscheint die kantig-gläserne Dachlandschaft als beinahe surrealer Körper. Die großflächig bedruckten Glasflächen, die sich mit den Grau- und Blautönen des Himmels vermischen, bringen eine vollkommen neue Ästhetik in die Stadt, rufen Irritationen hervor, wirken wie am Computer gerenderte, kristalline Körper. An manchen Stellen besitzen diese steil geneigten Dachflächen sogar nahezu die gleiche Höhe wie die darunterliegenden Vollgeschosse. Die Maßstäblichkeit, die über die Vorgabe der rund 20 m hohen Traufkante spürbar werden sollte, wird dadurch deutlich infrage gestellt, die Proportionen zwischen Haus und Dach verschieben sich, wirken besonders dort eher fremd.

Körperhaftigkeit und Dominanz

Für Stefan Behnisch ist jedoch das Dach als fünfte Fassade entscheidend: »In New York schaut niemand auf die Dächer, in Stuttgart schon«, stellt er heraus. Gerade beim Blick aus der Distanz, etwa der in Stuttgart so begehrten Halbhöhenlage, erinnert man sich an diesen Satz: Dann kehrt sich die Präsenz der Dächer plötzlich um. Von oben zeigen sie ihre wahre Größe, Körperhaftigkeit und Dominanz. Dabei haben die Architekten die Dachformen und

Faltungen der drei Solitäre bewusst so gestaltet, dass möglichst viele Blicke zur benachbarten Markthalle, zur Stiftskirche, zum Alten Schloss und zum Rathaus erhalten bleiben.

Die Sprache, die Behnisch Architekten für ihre Neubauten wählten, setzt sich dezidiert vom sachlich-nüchternen Formenkanon der Weißenhof-Moderne ab – den Geist des Ortes fanden sie v. a. im Stuttgarter »Nachkriegs-Expressionismus« der 50er und 60er Jahre: Rolf Gutbrods BW-Bank am Kleinen Schlossplatz und dessen Hahn-Hochhaus an der Friedrichstraße waren ihre Impulsgeber. Durch die bis zu 34 m hohen, mitunter 9-geschossigen Häuser entlang der schmalen Straßenräume entsteht freilich eine Dichte, die das Dorotheen Quartier merklich von Gutbrods Bauten unterscheidet. Auch der Materialmix aus Kalksandstein, Aluminium und bedrucktem Glas hat wenig mit den historischen Referenzen gemein.

Selektiver Ausschnitt des urbanen Lebens

Shopping ist zum zentralen Element unserer Gesellschaft geworden, Geschäftszonen sind die prägenden urbanen Räume des 21. Jahrhunderts – mit dieser These hat Rem Koolhaas bereits vor 15 Jahren die fundamentale Bedeutung dieser Bauaufgabe für die Stadt herausgestellt und dabei den kritischen Begriff des »Junk Space« geprägt. Dass in Stuttgart kein klassischer Junk Space entstanden ist, dass die Architekten nicht zum arglosen Dienstleister der Warenwirtschaft wurden, liegt nicht nur an der Nutzungsmischung des Quartiers: Behnisch Architekten haben mit ihren Neubauten einen wichtigen Beitrag dafür geleistet, wie Architektur und Kommerz zusammenfinden und einen öffentlichen Raum schaffen können.

Damit geben sie der Stadt etwas Entscheidendes zurück und zeigen, dass dies – anders als bei den großen, introvertierten Stuttgarter Malls »Milaneo« oder »Gerber« – durchaus möglich ist. Ob Stuttgart tatsächlich dieses mehr als 200 Mio. Euro teure Luxusquartier brauchen wird, muss sich erst noch zeigen. Sicher ist hingegen, dass dies ein exklusiver Ort in der Stadt bleiben wird – seine Klientel wird nur ein selektiver Ausschnitt des urbanen Lebens sein.

Lageplan, Behnisch Architekten, Stuttgart
Grundrisse 6.OG, Behnisch Architekten, Stuttgart
Grundrisse EG, Behnisch Architekten, Stuttgart
Längsschnitt, Behnisch Architekten, Stuttgart
Vertikalschnitt, Behnisch Architekten, Stuttgart / bearbeitet von Birk Heilmeyer und Frenzel Gesellschaft von Architekten, Stuttgart

  • Standort: Dorotheenstraße, 70173 Stuttgart

    Bauherr: EKZ Grundstücksverwaltung, Stuttgart
    Architekten: Behnisch Architekten, Stuttgart
    Mitarbeiter: Projektleitung: Jörg Usinger, Theresa Keßler; Architekten: Selma Alihodzic, Marina Bozukova, Jorge Carvajal, Réka Simó, Xenia Tiefensee, Jenny Rechle; Landschaftsarchitekten: Andreas Peyker, Nadine Waldmann
    Tragwerksplanung: Knippers Helbig, Stuttgart, mit Mayer-Vorfelder und Dinkelacker, Sindelfingen
    Fassadenplanung: PBI Entwicklung innovativer Fassaden, Wertingen
    HLS- und Elektroplanung: Bohne Ingenieure, Düsseldorf
    Energie- und Umwelttechnik: TRANSSOLAR Energietechnik, Stuttgart
    Bauphysik: DSPlan, Stuttgart
    Lichttechnik: Bartenbach LichtLabor, Aldrans
    Bodengutachten: Smoltczyk & Partner, Stuttgart
    BGF gesamt: 64 237 m², Nutzfläche: 44 948 m²; Arbeitsplätze: 750
    BRI gesamt: 250 228 m³
    Flächen Neubauten: 38 250 m², davon: 11 000 m² Einzelhandel/Gastronomie; 25 000 m² Bürofläche, 3 000 m² Wohnen (19 Wohnungen)
    Baukosten: keine Angabe
    Wettbewerb: 2010
    Bauzeit: Sommer 2014 bis Sommer 2017

Unser Kritiker Hans-Jürgen Breuning empfand v. a. den neu geschaffenen Stadtraum als deutliche Aufwertung – suchte jedoch vergeblich nach einem passenden Ort, um diesen zu genießen.


Behnisch Architekten


Stefan Behnisch

1957 in Stuttgart geboren. 1979-87 Architekturstudium an der Universität Karlsruhe. 1987-91 Mitarbeit im Büro Behnisch & Partner, seit 1991 eigenes Büro, 1999-2011 Zweigstelle in Los Angeles, seit 2006 auch
in Boston und seit 2009 in München. Seit 1997 internationale Lehrtätigkeit, insbesondere in den USA.

Jörg Usinger

1966 in Frankfurt a. M. geboren. 1987-93 Architekturstudium an der RWTH Aachen und der TU Karlsruhe. 1993-2005 Mitarbeit bei Behnisch & Partner, seit
2005 bei Behnisch Architekten, seit 2017 als Partner. 2003-12 Lehrauftrag an der Universität Stuttgart.

Theresa Keßler

1980 in Würzburg geboren. 1999-2006 Architekturstudium an der Universität Stuttgart. Seit 2006 Mitarbeit bei Behnisch Architekten. 2001 Gastkritikerin
an der EPF Lausanne, 2001-12 Akad. Mitarbeit an der Universität Stuttgart.

Hans-Jürgen Breuning

1985-92 Studium der Architektur und Stadtplanung in Stuttgart und Florenz, 1999 Promotion. 2000-13 Mitarbeit bei Leder Ragnarsdóttir Oei, seither bei wulf architekten. Seit 2004 Lehrtätigkeit an der HfT Stuttgart, 2011-13 Vertretungsprofessur.

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