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Wenn Stilfragen Politik machen

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Wenn Stilfragen Politik machen

Wenn die Politik in Deutschland die Zukunft in die Hand nimmt, schaut sie nicht gleich aufs Geld,

~Christian Marquart

sondern verfolgt gerne große Ziele: eine Wasserstraße wie den Rhein-Main-Donau-Kanal, auf dem wenig Fracht, aber doch ein paar Ausflugsdampfer unterwegs sind; neue Generationen von Militärflugzeugen, deren Technik gerne verspätet und kostspielig nachgerüstet wird; ferner die Atommeiler, für die es nie ein seriöses Entsorgungskonzept gab und deren Abfalllager – Stichwort Asse 2 – unter den Augen der Obrigkeit nach Art des organisierten Verbrechens betrieben werden: notabene eine tolle Reklame für längere Laufzeiten von KKW! Und dann das seit Jahrzehnten in Zeitlupe ausgebaute Netz an ICE-Trassen, das immer noch durchlöchert ist von Streckenabschnitten, wo man nicht mit knapp 300 km/h vorankommt, sondern im Bummelzugtempo. Mit den freihändig skizzierten Infrastruktur-Visionen von ganz oben korrespondieren buchhalterische Zahlenspiele auf der unteren, der Planungs-Ebene – und ein notorisch geheimniskrämerischer Umgang mit »unpassenden« wissenschaftlichen Fakten. Es hat sich eingebürgert, dem Steuerzahler vorzugaukeln, dieses oder jenes Großprojekt würde sich fast von alleine finanzieren: ein Stadtschloss in Berlin, die Frauenkirche in Dresden, die Elbphilharmonie in Hamburg, der Tiefbahnhof »Stuttgart 21«. Forschungsmittel für eine nachhaltige Energiepolitik werden demnächst aus Trinkgeldern der Stromkonzerne finanziert, denen zuvor mit verlängerten KKW-Laufzeiten milliardenschwere Geschenke gemacht werden. Das kann so nur stattfinden, weil die Politik Warnungen der Experten ignoriert, nach denen der künftig produzierte Atomstrom den Markt für nachhaltige Energien ernsthaft beschädigen bzw. zerstören werde. Ein frivoler Politikstil schafft sich derzeit Platz, mit ganz eigenen Qualitäten und Ergebnissen: Aus Stilfragen sind längst handfeste Strukturen und Inhalte geworden. Wenn die Politik nicht mehr oder gänzlich unprofessionell kommuniziert, wenn Minister einerseits gewohnheitsmäßig Lobbyisten an ihre eigenen Schreibtische setzen, andererseits sich gegenüber unabhängigen Fachleuten als beratungsresistent erweisen, resultiert daraus eine recht spezifische Politik – für den Bürger freilich erst durchschaubar, wenn er etwa erfährt, dass wohl die Wirtschaft, aber nie die Wissenschaft in der politischen Arbeit mitreden, gar die Themen setzen oder den »policy outcome« über Gebühr mitbestimmen darf. Wer sich fragt, warum plötzlich bürgerliche Schichten auf der Straße zusammen mit den üblichen Protestmilieus friedlich gegen fragwürdige Großprojekte revoltieren, muss jenen angedeuteten Umschlag von schlechtem politischen Stil in »pure« Politik in seine Analysen einbeziehen. Die Art und Weise, wie die Politiker ihre Argumente in fast jedem strittigen Szenario als allen anderen Denkpositionen überlegenes Planungs- und Handlungswissen deklarieren, ist mittlerweile unerträglich – und überdies vielfach diskreditiert durch Beispiele, wie sie eingangs aufgelistet wurden. Die Politik weiß es eben nicht besser – aber sie will das partout nicht wahrhaben, denn dann müsste sie ihren Stil ändern: Wie mühsam! Wie ärgerlich!
Es dauert lange und ist oft von Zufällen geprägt, ob und wann Bürger auf die Barrikaden gehen. Die Proteste um »S 21« gäbe es vielleicht gar nicht, wenn im Architektenwettbewerb 1997 ein Siegerentwurf gekürt worden wäre, der die Seitenflügel des alten Bonatz-Bahnhofs als Bild erhalten hätte – und es gab solche Lösungen! Der querliegende Tiefbahnhof mit seinen Tunnelbauten hätte vielleicht gar nicht erst zur Debatte gestanden, wenn Mitte der 90er der damals amtierende Bahn-Vorstand Heinz Dürr sich von Stuttgarts OB Rommel nicht ins Bockshorn hätte jagen lassen, der beiläufig eine von Dürr in Auftrag gegebene Planungsstudie des Hamburger Architekturbüros gmp vom Tisch wischte, die einen neuen Stuttgarter Durchgangsbahnhof preiswert und oberirdisch am Ende des Rosensteinparks positionierte: Der Bahnhof habe im Zentrum der Stadt zu verbleiben, verfügte Rommel und ließ dabei außer Acht, dass eine »City 2« sich wohl viel organischer entwickeln ließe mit einem neuen Zielpunkt, einem neuen Gravitationszentrum im Osten des Konversionsgebiets. Die Option eines oberirdischen Durchgangsbahnhofs sei nie realistisch gewesen, hieß es immer; aber wie steht es um die Wirtschaftlichkeit des aktuellen 21-Konzepts, wenn doch längst klar ist, dass die steile, schwer kalkulierbare Trasse nach Ulm allenfalls auch von kurzen, »leichten« Güterzügen zu meistern sein wird, deren künftiger Bedarf in Frage steht? Etwa 15 Jahre gingen ins Land, um die Wirtschaftlichkeit des Projekts hinreichend schönzurechnen, aber überzeugender wurde das von Politik und Bahn vorgelegte Zahlenwerk dadurch nicht: Alte und neue Expertisen ausgewiesener Fachleute, welche die Medien leider erst jetzt in der Gesamtschau wiedergeben, erklären S 21 rundweg zum »verkehrspolitischen Desaster« (vgl. Der Spiegel, 37/2010).
Doch wenn der Bahn und ihren Kunden mit dem Projekt kaum gedient ist, nützt es vielleicht den Stuttgartern? Werden sich die Brachen der Bahn in urbane Stadtteile verwandeln? Schon zu Beginn des Projekts erhoben sich Stimmen, man dürfe mit den üppigen Konversionsflächen das stattliche Preisgefüge des lokalen Immobilienmarkts nicht destabilisieren. Und da ist vorgesorgt. Das städtebauliche Konzept und (zu) hohe Einstandspreise bei den Brachflächen machen intelligente, preisgünstige Projekte per saldo unwahrscheinlich. Was bereits auf S 21-Flächen gebaut und geplant ist, legt die Latte für architektonische und städtebauliche Qualitätsstandards nicht sehr hoch. Kleinteilig und in geordneter ästhetischer Vielfalt, wie man sich eine lebendige Stadt wünscht, wird bei S 21 kaum gebaut werden. – Großprojekte legitimieren sich nur durch breiten Konsens. Bürger, die sich erst im letzten Moment betroffen fühlen, müssen lernen, früher aufzuwachen. Es ist Zeit für einen neuen, produktiveren Politikstil – auf allen Ebenen.
Der Autor ist freier Publizist und Herausgeber der Zeitschrift »Kultur«. Er lebt in Stuttgart.
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