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Visvaldis Sarma

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Visvaldis Sarma

Nachdem wir unsere Kolumne über europäische Architektur 2009 Großbritannien gewidmet haben, werden dieses Jahr zwei Korrespondenten für uns aus Nordosteuropa berichten. Den Anfang macht Visvaldis Sarma aus der lettischen Hauptstadt Riga. Er führt seit 1993 das Architekturbüro Sarma & Norde,das vornehmlich öffentliche Bauten und Bürohäuser baut, darunter die Swedish School of Economics, die Nordea-Bank, die Latvia Savings Bank und Bauten für das lettische Innenministerium. Er promoviert gegenwärtig über den künstlerisch-kreativen Prozess in der Architektur. Er studierte am Polytechnikum in Riga und erwarb seinen Mastertitel an der TU Riga, wo er auch seit 2008 lehrt. In seinen Beiträgen wird er sich mit den baulichen Entwicklungen und brancheninternen Diskussionen im Baltikum und insbesondere in seiner Heimat Lettland beschäftigen. In dieser Ausgabe gibt er uns einen Überblick über die Entwicklungen in den drei baltischen Hauptstädten Riga, Tallinn und Vilnius, über die Ausgangssituation nach dem Ende der Sowjetunion, die Chancen und Gefahren für das architektonische Erbe, den Einfluss der Marktwirtschaft, die Haltung der Behörden und den Ausblick auf eine für alle drei Städte sehr unterschiedliche Zukunft. ~dr

~Visvaldis Sarma

Die drei baltischen Hauptstädte – 20 Jahre danach
Liebe db,
Litauen, Lettland und Estland haben in den letzten 20 Jahren nach und nach die Regeln der Marktwirtschaft übernommen und eifrig die Kunst des unabhängigen Denkens und Handelns gelernt. Auch wenn es noch zu früh ist, Schlussfolgerungen hinsichtlich der beschrittenen Wege zu ziehen, sind im Bereich der Stadtplanung erste Konsequenzen schon sichtbar. Es lohnt sich, die drei Hauptstädte – Vilnius, Riga und Tallinn – näher zu betrachten, denn wie in kleinen Volkswirtschaften üblich, nehmen die Hauptstädte die führende Rolle ein und zeigen am deutlichsten, welche Erfahrungen gemacht wurden, wie viel Bereitschaft zu planerischen Entscheidungen besteht und welche auch wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vorhanden ist, die entwickelten Pläne auch in die Tat umzusetzen.
Riga ist mit 720 000 Einwohnern die größte Stadt des Baltikums und besitzt ein umfassendes historisches Erbe, das auf der UNESCO-Welterbeliste steht. Dazu gehören Vecriga (Alt-Riga) und das sogenannte Jugendstil-Viertel, die zusammen eine der beeindruckendsten Altstädte in Europa bilden. Selbstverständlich sind Planungen unter solchen Bedingungen sehr kompliziert, insbesondere, wenn es um Neubaugebiete in unmittelbarer Nähe des historischen Zentrums geht.
Gleichzeitig bedeckt die Altstadt angesichts heutiger Bedürfnisse eine relativ große Fläche mit mehreren wenig besiedelten Inseln und Halbinseln im Fluss Daugava, die von der Altstadt aus direkt sichtbar und zugänglich sind. Über Jahre hinweg wurde in Riga die mögliche Lage eines neuen Stadtzentrums diskutiert. Ohne Ergebnis wurden verschiedene Argumente zugunsten der einen oder anderen Insel oder des einen oder anderen Ufers ins Feld geführt, während die sich entwickelnde Wirtschaft dringend neue Bauten für Hotels, Banken und Büros benötigte. Erstens gestaltete sich die Ausweisung neuer Bauflächen im Stadtzentrum wegen der historischen Restriktionen schwierig, zweitens traf die Verwaltung keine Entscheidung, wie gewerbliche Nutzungen logisch an einem bestimmten Ort hätten konzentriert werden können. In dieser Situation entstanden auf verschiedenen »brachliegenden« Grundstücken unkoordiniert neue Gebäude – natürlich begleitet von erheblicher Verschwendung infrastruktureller und wirtschaftlicher Ressourcen, und das in einer Zeit der wirtschaftlichen Stagnation, wenn ein Teil der Flächen aufgrund begrenzter Kaufkraft zwangsläufig leerstehen muss. Dennoch sind der historische Kern der Stadt und seine Skyline noch immer relativ intakt, selbst wenn man die Überreste der massiven Erweiterungen während der Sowjetära einbezieht. Das Nachlassen der wirtschaftlichen Dynamik eröffnet den nötigen Spielraum, für zukünftige Neubauten sinnvolle Regulierungen zu implementieren, sie in spezifischen und klar definierten Bereichen zu konzentrieren und dabei die demografischen und wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten in der jeweiligen Umgegend kritisch zu betrachten.
Tallinn ist kleiner – etwa 400 000 Einwohner – und hat sich aufgrund des starken Einflusses der skandinavischen Wirtschaft sehr schnell entwickelt. Dabei blieb keine Zeit für effektive Überlegungen hinsichtlich Neuplanungen. Tompea und All-Linn, die zusammen die Altstadt von Tallinn bilden, sind als UNESCO-Welterbestätten einigermaßen geschützt und nicht wesentlich von neuen Bauten beeinträchtigt. Die Altstadt ist hervorragend erhalten. Sogar Ergänzungen aus der späten Sowjetzeit wurden intelligent und behutsam in den Bestand eingefügt und zeigen, auf welch hohem Niveau sich sowohl die estnische Architekturschule der achtziger Jahre als auch das Verständnis der politischen Elite dafür bewegte.
Der neue Geschäftsbezirk jedoch grenzt direkt an die Altstadt an und beeinträchtigt nicht nur die Silhouette der Stadt, sondern das ganze Ambiente des Stadtkerns; er verändert den historischen Maßstab und darüber hinaus das spezifische Gefühl einer traditionellen nordischen Stadt. Erfolgreicher sind die neuesten Entwicklungen in Richtung des Hafens mit einigen brillanten Beispielen radikaler Konversion nicht nur von einzelnen Gebäuden, sondern ganzer Blocks ehemaliger Lagerhäuser aus dem 19. Jahrhundert. Fragwürdig allerdings ist die Absicht, neue Bauten für die Stadtverwaltung auf einem Grundstück zu planen, das direkt vor der Altstadt liegt, wodurch sich die ganze Silhouette von Tallinn radikal verändern könnte. Mittlerweile überdenken die Behörden diese Art der städtischen Weiterentwicklung. Ein neuer Masterplan wird verfasst, begleitet von ernsthaften Analysen der Erfahrungen der letzten Jahre, die zu nachvollziehbaren Reaktionen bezüglich der künftigen Entwicklung des Stadtraums führen könnten.
Vilnius (etwa 550 000 Einwohner) folgte konservativen stadtplanerischen Grundsätzen, was bei einem Gang durch die Stadt leicht zu erkennen ist. Die Altstadt von Vilnius, Vilniaus senamiestis, ist ebenfalls UNESCO-Weltkulturerbe und verhältnismäßig unberührt. Es gibt nur ein paar fragwürdige Beispiele historischer Kopien, die aber die Umgebung oder den durch niedrige Bauten geprägten Maßstab nicht stören. Als Ausnahmen lassen sich manche Überreste der ehrgeizigen sowjetischen Stadterweiterungsphase und -philosophie aufführen, die wie üblich ihre Machtsymbole an den repräsentativsten (und zur gleichen Zeit sensibelsten) Stellen der usurpierten Gebiete platzierten.
Dank klarer Beschränkungen und Richtlinien befindet sich das neue Zentrum gegenüber der Altstadt am anderen Ufer des Flusses Neris und nimmt einen großen Teil der gewerblichen Aktivitäten der Hauptstadt mitsamt der städtischen Verwaltung auf. Grüne Freibereiche entlang des Ufers verleihen dem Übergang zwischen Alt und Neu einen an den Bewohnern orientierten Maßstab und dem städtischen Raum einen frischen Akzent, der dem ansonsten stark besiedelten Gebiet einen speziellen Charme gibt und die Be- griffe »Nachhaltigkeit« und »menschenwürdiges Umfeld« mit Leben erfüllt. Dieselbe humanistische Herangehensweise ist entlang des ganzen Flusses zu finden und verwandelt diesen Bereich der Stadt in ein wichtiges Erholungs- und Kommunikationszentrum für die verschiedenen Bewohnergruppen. Diese Ufer-Regeneration kann als eine der erfolgreichsten aktuellen Planungen in im Baltikum betrachtet werden. Wie üblich bei Planungsprozessen sind die Behörden auch in Vilnius nicht immer durchsetzungsfähig oder -willig genug, die Zersiedelung durch Gewerbebauten unter Kontrolle zu halten – was hier erst sichtbar wird, wenn man die Stadtsilhouette aus einer gewissen Entfernung betrachtet.
Obwohl sich die drei baltischen Hauptstädte vor 20 Jahren in nahezu derselben Situation befanden und auch fast dieselben Chancen zur Stadtentwicklung besaßen, haben sie erstaunlich unterschiedliche Wege gewählt, die neue Epoche baulich zu manifestieren. Und so sehen sie nun auch verschiedenen Problemen entgegen, die ich in einer der nächsten Ausgaben der db näher beschreiben möchte.
Viele Grüße aus Riga,
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