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Nestbau im Büro

Vorzeigeoffice und Experimentallabor in Weil am Rhein
Nestbau im Büro

Simple Großraumbüros sind genauso passé wie die Einzelzelle. Der Trend geht zum Open Space Office, das Arbeit und die Möglichkeit zum Rückzug verbindet. Die britische Innenarchitektin Sevil Peach und der Büromöbelhersteller Vitra entwickeln in den Verwaltungsbüros auf dem Vitra-Werksgelände den Open Space- Gedanken ständig weiter. In den immer wieder neuen Arbeitswelten ist der Benefit für Mitarbeiter und Arbeitgeber groß.

Text: Andrea Eschbach Fotos: Barbara Sorg, Marc Eggimann

Es herrscht konzentrierte Stimmung. Die Atmosphäre ist licht und hell. An langen Gruppentischen arbeiten Teams, hinter Glasscheiben findet eine Sitzung statt, an Einzeltischen mit hohen Screens lässt es sich ruhig nachdenken. Lounge Chairs laden zum Relaxen ein, Sofas mit hohen Lehnen bilden Nischen für den Rückzug, Leuchten, Sessel oder Stühle setzen farbige Akzente in der weiß-beigefarbenen Bürolandschaft.
Die geräumigen Arbeitswelten bei Vitra in Weil am Rhein und im Schweizerischen Birsfelden stehen exemplarisch für die kontinuierliche Weiterentwicklung des Open Space Offices. Das simple Großraumbüro war gestern, heute propagieren Büromöbelhersteller wie Vitra, USM, Denz oder Lista das Büro als offene Landschaft. Vor allem bei größeren Unternehmen setzt sich diese Tendenz mehr und mehr durch. Für den Büromöbelhersteller Vitra war es eine logische Entwicklung. »Wir experimentieren seit über zwanzig Jahren mit verschiedenen Büroformen«, erklärt Jürgen Dürrbaum, Head of Division Systems bei Vitra. Für den Wandel der Arbeitswelten liefert das Birsfelder Unternehmen seit der Einführung des Büromöbelsystems »Metropol« (1988) immer wieder innovative Lösungen. Zusammen mit einigen der wichtigsten Gestaltern entwickelte Vitra neue Büromöbelsysteme, die sich von den hierarchisch-bürokratischen Vorstellungen der Arbeitswelt lösten. In die neunziger Jahre fällt das Projekt der flexiblen Büroeinrichtung, einer multioptionalen Bürokultur mit zentralen und dezentralen, mit festen und nonterritorialen Arbeitsplätzen. Zu den weiteren Marksteinen in der Entwicklung zählen die Propagierung des Networkgedankens 2002, gefolgt vom Fusion-Konzept zwei Jahre später, das die widerstreitenden Bedürfnisse nach Abschirmung und Offenheit im Büro miteinander versöhnte. Im Oktober 2006 wurde ein Teil der ehemaligen Birsfelder Fabrikhalle zu einer offenen Bürolandschaft für rund vierzig Mitarbeiter der Division Systems umgenutzt. Vorzeigeoffice und Experimentallabor in einem ist aber seit 2000 die Bürolandschaft im Grimshaw-Gebäude in Weil am Rhein.
luftig und leicht, gut organisiert und flexibel
Verantwortlich dafür ist die international renommierte Innenarchitektin Sevil Peach. Genau wie Vitra ist sie eine Vordenkerin in Sachen neue Arbeitswelten. Die britische Innenarchitektin türkischer Herkunft vertritt die Ansicht, dass ein guter Arbeitsplatz eine große Bandbreite an Möglichkeiten bieten sollte. Inspirierend sei eine Umgebung, die leicht und luftig, gut organisiert und flexibel, farbig durchdacht und demokratisch ist. Seit 1997 arbeitet Sevil Peach mit ihrem Londoner Büro SPGA für Vitra und kann dabei ihre Konzepte sukzessiv umsetzen. Das Briefing von Chairman Rolf Fehlbaum an die Innenarchitektin lautete damals kurz und bündig: »Schaffen Sie ein atmendes Büro!«. Es sollten optimale räumliche und mentale Bedingungen für eine reibungslose Kommunikation geschaffen werden. Schließlich sei Netzwerken der Grund, dass der Mitarbeiter ins Büro kommt, denn Arbeiten kann er dank der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien auch an anderen Orten.
Im Büro tauscht man sich aus, profitiert vom Wissen der anderen und löst Probleme gemeinsam. Die Einsicht, dass eine offene Arbeitszone den heutigen ökonomischen und arbeitstechnischen Anforderungen am besten entspricht, hat sich bei Experten wie dem Institut für Arbeitsforschung und Organisationsberatung IAFOB in Deutschland und bei Unternehmen durchgesetzt.
In der Praxis stößt das großdimensionale Arbeitswelten-Modell jedoch immer noch auf Skepsis. Jürgen Dürrbaum macht dafür folgenden Grund aus: »Das Großraumbüro wurde in Deutschland zu früh eingeführt und hat dadurch wesentliche Aspekte des menschlichen Arbeitens vernachlässigt.« Nun sei die Zeit reif für neue Raumkonzepte. Unter dem Schlagwort »Net’n’Nest« firmiert ein frisches Modell, das mit dem freudlosen, grauen und lärmigen Arbeitsalltag im Großraumbüro der siebziger Jahre nichts mehr gemein hat. Es umfasst zwei sich ergänzende Komponenten: Net steht für Kommunikation, Diskurs und Offenheit, Nest räumt die Möglichkeit des produktiven Rückzugs aus der Kommunikationsgemeinschaft ein – zur konzentrierten Einzelarbeit, für informelle Gespräche, vertrauliche Telefonate oder ganz einfach zur Erholung. In Weil testen Vitra-Mitarbeiter nun, ob die Theorie des dialektischen Modells der Praxis standhält: Rund 135 Menschen aus den Abteilungen Vertrieb, Finanzen, Logistik und Informationstechnologie arbeiten im Grimshaw-Gebäude auf 2150 Quadratmetern, die maximale Kapazität liegt bei 160 Mitarbeitern.
Mehr Gemeinschaft, weniger Individualität
»Ich wollte eine Art Straßenleben schaffen«, sagt Sevil Peach. Der Büroraum ist wie eine Landschaft angelegt, mit unterschiedlichen Zonen, verschiedenen Höhen, einem ausgeklügelten Farbkonzept. Über allem schwebt der demokratische Gedanke. So sind die sonst so heiß umkämpften Fensterplätze öffentliche Zone – an der meterlangen Glasfront mit der Aussicht ins Grüne zieht sich ein langer Gang mit Besucherzone, Meetingräumen und der Cafeteria entlang. Die Bürolandschaft befindet sich leicht erhöht auf einem holzbeplankten Podest dahinter. ›
› Der individuelle Arbeitsplatz ist räumlich eingeschränkt zugunsten gemeinsam genutzter Bereiche. Nur die Hälfte des Gesamtraums beanspruchen die Arbeitsplätze. Die Mischung aus territorialen und non-territorialen Arbeitsplätzen sorgt für Bewegung.
Es ist erstaunlich leise in diesem Großraumbüro. Dies liegt zum einen am Einsatz von lärmdämpfenden Materialien für Decke und Boden sowie schallschluckenden Schränken mit perforierten Fronten, aber auch am disziplinierten Verhalten der Mitarbeiter selbst: »Arbeiten im Großraum hat eine Auswirkung auf das Verhalten«, stellt Dürrbaum fest. Ein anderer positiver Effekt sei, dass sich die Länge der Meetings stark verkürzt habe: »Zufällige Zusammentreffen haben den informellen Austausch erhöht.« Als Treffpunkte fungieren die Cafeteria und zwei begrünte Außen-Patios, Arbeitssofas dienen kurzen Meetings und Telefongesprächen, Stehtische werden für die schnelle Konferenz genutzt. Eine Zone des Rückzugs bildet unter anderem die Bibliothek. Die eingerichteten Raum-in-Raum-Module (Silence Room) zum Relaxen werden jedoch – da nicht genügend abgeschirmt – wenig angenommen. Die Ruheräume für den kurzen Schlaf am Arbeitsplatz haben sich nicht durchgesetzt und wurden wieder abgeschafft: »Anders als in Asien ist der kurze Schlaf im Büro bei uns sozial noch nicht akzeptiert«, erklärt Dürrbaum.
Gewünscht waren mehr Rückzugsmöglichkeiten jedoch durchaus. Ein Vorteil des Testlaufs ist, dass sehr schnell auf die Wünsche der Mitarbeiter eingegangen werden kann. Rückzugsmöglichkeiten bieten eine Reihe von eigens entwickelten Produkten: So schafft das Sofa »Alcove« der Brüder Bouroullec schon rein optisch eine Rückzugsinsel in der Bürolandschaft.
Das Möbel mit der 1,60 m hohen Rückenlehne lädt zum Entspannen ein, aber – dank der gedämpften Akustik – auch zu Diskussionen in kleinem Kreis. Den Wunsch nach mehr Privatsphäre bedienen die französischen Designer auch mit dem ohrensesselartigen Stuhl »Workbay«, in dem man wie in einem Kokon vor den Geräuschen der Umwelt geschützt ist. ›
› Wohlfühlen im großdimensionalen Arbeitsraum muss kein Widerspruch sein. Für die Firmen bedeutet dies nicht nur zufriedene Mitarbeiter, sondern ganz klar auch Profit. Seit man bei Vitra in der »offenen Landschaft« arbeitet, ist der Krankheitsstand gesunken. Die Effizienz des gesamten Unternehmens – so gibt Vitra-CEO Hanns Peter-Cohn an – sei deutlich gesteigert worden – Gestaltungsqualität und Wohlfühlqualität stützen die Produktivität.
Vitra will aber keine allgemeingültigen Rezepte für das Arbeiten von morgen anbieten. »Es gibt nicht nur eine Art des Arbeitens«, bestätigt Sevil Peach. Dem will das Net’n’Nest-Konzept Rechnung tragen. Jedes Unternehmen kann sich dasjenige Net’n’Nest Office einrichten, das zu ihm passt. Je nach Wahl der Komponenten bekommt so das Prinzip Net’n’Nest immer wieder ein anderes Gesicht. Das flexible Konzept lässt jedes Büro anders aussehen, da es auf unterschiedliche Komponenten zurückgreift. Aber letztendlich wird immer das Gleiche erreicht: Networking, Kommunikation und messbare Effizienz. Allen Widerständen und Kritiken zum Trotz: Das Konzept feiert bereits Erfolge. Und dies nicht nur bei Werbeagenturen und großen Unternehmen wie Google in Zürich, Novartis in Basel oder Accenture in Kronberg bei Frankfurt. Auch kleine und mittlere, eher bodenständige Unternehmen entdecken die Vorteile von Net’n’Nest. So hat sich zum Beispiel das traditionsreiche Schweizer Gebäckunternehmen Hug dafür entschieden, auf die Chefetage zugunsten einer offenen Bürolandschaft zu verzichten. Die Kombination aus Austausch und Rückzug bedeutet auch einen Wandel in der Unternehmenskultur. »Man muss viel Überzeugungsarbeit leisten, damit die Mitarbeiter verstehen, dass sie ungestraft auch in der Cafeteria arbeiten können«, sagt Sevil Peach. Es geht um nichts weniger als einen Perspektivenwechsel. Oder in Winston Churchills Worten: »We shape our buildings; thereafter they shape us.« •
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