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Mit diesem Brief

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Mit diesem Brief

enden die monatlichen Berichte aus dem Baltikum. Zum Abschluss widmet sich Visvaldis Sarma der Architektur in kleineren Städten, in denen der ökonomische Druck nicht gar so hoch ist wie in den Metropolen: Die Büros sind nicht auf Gedeih und Verderb an ein einziges großes Projekt gebunden, sondern beziehen ihre Einnahmen aus mehreren kleinen Aufträgen. Außerdem sind die Entscheidungsstrukturen effizienter. Dadurch kann qualitätvolle Architektur entstehen. Ebenso geben Büros aus den Hauptstädten wichtige architektonische Impulse, doch stammen keineswegs alle gelungenen Beispiele von ihnen. Dieser Ausflug in die Provinz ergänzt das Bild, das wir in den letzten Monaten vom Baltikum gewonnen haben. Wir danken Visvaldis Sarma für seine Briefe und freuen uns darauf, ab Juli das Neueste aus Finnland zu hören. ~dr

~Visvaldis Sarma

Aus den Metropolen in die Provinz
Liebe db,
wenn wir über Tendenzen und Neuentdeckungen in der Architektur sprechen, führen wir als Beispiele üblicherweise realisierte Projekte aus Hauptstädten oder Metropolen an, die eine bestimmte Richtung oder Handschrift besonders deutlich repräsentieren. Dabei vergessen wir, dass in vielen Fällen kleinere Städte Architektur als Mittel der Selbstdarstellung einsetzen, um sich von anderen »unbekannten« Orten abzuheben – meist sind das schlicht Ansammlungen ähnlicher Siedlungen, die sich nur durch ihre Namen unterscheiden. Erfahrungsgemäß führen solide politische Konstellationen in der lokalen Verwaltung zu schnelleren Entschlüssen mit klaren Mehrheiten, wenn es um notwendige Einrichtungen oder die mutige Entscheidung für außergewöhnliche Vorschläge geht. Es ist nicht ungewöhnlich, unterschiedliche Ergebnisse als Ausdruck erfolgreicher Baupolitik der Behörden zu sehen, die baukulturelle Werte vermitteln und nicht nur die alltäglichen Bedürfnisse bedienen.
Ventspils, eine Hafenstadt im Nordwesten Lettlands, ist in der Erdölbranche wegen ihres eisfreien Hafens als einer der wichtigsten Umschlaghäfen zu Sowjetzeiten bekannt. Die damals reiche und finanziell unabhängige Stadt, in ihrer offiziellen Politik buchstäblich seit Jahrzehnten geführt von dem in vielerlei Hinsicht kontroversen Bürgermeister Aivars Lembergs, hat den Anspruch, in jedem alltäglichen Aspekt anders zu sein: Das beginnt beim Versuch, in die mitteleuropäische Zeitzone zu wechseln, und reicht über die Neudefinition als autonome Wirtschaftszone bis hin zur erfolgreichen Realisierung von öffentlichen Bauten und Plätzen sowie der Restaurierung der mittelalterlichen Burg (und das bei 40 000 Einwohnern). Wir können hier eine ganze Palette zeitgenössischer Verwaltungs-, Kultur- und Sportbauten finden, die sämtlich unterschiedliche Aspekte hochwertiger aktueller Architektur aufweisen, das Ergebnis der zielgerichteten und gut koordinierten Arbeit des Obersten Stadtarchitekten.
Unter anderem lohnen die Bibliothek im Stadtteil Pārventa (Architekten: INDIA, Riga) und die Konzerthalle (Behnisch Architekten) einen eingehenderen Blick. Da im Stadtzentrum von Ventspils bereits eine Bibliothek existiert, sollte der Neubau außer Raum zur Archivierung und zum Lesen diverse öffentliche Funktionen übernehmen – Aufführungen, Filmveranstaltungen, eine Wi-Fi-Zone, Themenabende mit Lesungen und Ausstellungen. Die organischen Formen des Baukörpers sind mit einer Verkleidung aus Kupfer umhüllt, in die per Laser Zeilen aus Volksliedern geschnitten wurden. Der Bau, zwischen Kiefern und Dünen in einem unberührten Küstenabschnitt gelegen, steht für die Verschmelzung von Tradition und Technologie.
Der Bau der Konzerthalle ist gegenwärtig unterbrochen, aber die tragende Idee ist erkennbar: Die Halle befindet sich direkt im Zentrum, auf dem Hauptplatz der Stadt, und greift die vorhandenen städtischen Fluchten und Richtungen auf; der Baukörper ist sichtbar in verschiedene Module aufgeteilt, die zum Maßstab der Umgebung passen. Die Architekten vermieden Kontraste und den gezielten Bruch mit dem Kontext. Beide Projekte verkörpern die Fähigkeit der Behörden, ein gutes Gleichgewicht zwischen Ambitionen und voraussichtlichem Bedarf zu finden, was sich auch in der Leistung der Architekten niederschlägt, die bei den Einwohnern auf positive Resonanz stößt.
Im estnischen Pärnu führte ein anderer historischer Hintergrund ebenfalls zu erwähnenswerten Lösungen auf architektonischem Gebiet. Als wichtiges Zentrum für die Bau- und Regionalplanung im ländlichen Estland während der Sowjetzeit konnte Pärnu die damals gesammelten Erfahrungen konservieren und weiterentwickeln. Dazu kamen ein gewisser finanzieller Reichtum aufgrund der vorteilhaften geografischen Lage direkt an der Via Baltica (die Europastraße E 67 von Tallinn nach Prag), ohne benachbarte konkurrierende Städte, und so konnte der Großteil der Bauaktivitäten in vernünftiger und sogar geschmackvoller Architektur umgesetzt werden. Die neue Bibliothek (Architekten: 3+1, Tallinn) im Stadtzentrum, in der Form absolut schlicht, steht im Gleichklang mit den gut proportionierten Bauten aus der sowjetischen Moderne in der Umgebung und wirkt mit ihren durchsichtigen Glasfassaden und farbenfrohen Aufdrucken (ein Charakteristikum hiesiger Metropolenarchitektur) am Eingang sogar ein bisschen prätentiös. Das verdankt sie der perfekten Maßstäblichkeit und der harmonischen Platzierung auf dem Grundstück – was wiederum der Stadt viel gut geformten öffentlichen Raum schenkt. Die Planer folgten einer unrealisierten Planung aus Zeiten der Sowjetunion, mit der kleinen Abweichung, den Baukörper asymmetrisch statt achsensymmetrisch zu formen. Dieselbe Schlichtheit, charakteristisch für die besten Beispiele des estnischen Funktionalismus und über die Jahre von verschiedenen Architektengruppierungen kultiviert, zeigt sich in einem Gästehaus in Seedri (JVR Arhitektuuribüroo, Tallinn). Der Baukörper des strahlend weißen Baus lässt keine Zweifel an der Entstehungszeit, dem Geschmack oder den Werten der Architekten und der Bewohner von Pärnu aufkommen.
Litauen wird im übrigen Europa vor allem mit seiner Hauptstadt Vilnius assoziiert. Dabei wird aber vergessen, dass Kaunas als zweitgrößte Stadt (und Hauptstadt von 1920-39) tapfer mit der Metropole um kulturelle Erfolge konkurriert. Als historische Stadt mit bedeutsamem architektonischen Erbe steht Kaunas dem typischen Bündel von Problemen gegenüber: Strenge Einschränkungen für neue Bauten im Stadtzentrum, überwacht vom Expertenrat für Architektur und Städtebau (KAUET), führen unweigerlich zu Kompromissarchitektur, weswegen die interessantesten Versuche des letzten Jahrzehnts in den Vororten zu finden sind. Eins der berühmtesten ikonischen Gebäude in Litauen, der theatralische Bürobau »1 000«, auch »Banknote Building« genannt (Architekten: RA Studija, Kaunas), befindet sich beispielsweise in einem nördlichen Vorort. Das organisch geformte zehngeschossige Gebäude ist demonstrativ in einen 1 000-Litas-Schein gehüllt und würde hervorragend nach Dubai oder Las Vegas passen, aber auch hier ist es komplett vermietet und als Geschäftsmodell erfolgreich. Dem gegenüber zeugt ein anderes Beispiel – der Flughafen von Kaunas (Architekten: G. Natkevicius ir Partneriai, Kaunas) – von Intelligenz, Sensibilität und funktionaler Logik in Volumen und Innengestaltung und gehört zu Litauens besten zeitgenössischen Werken außerhalb von Vilnius.
Selbstverständlich gibt es viele weitere Beispiele in baltischen Städten dritter, vierter oder gar sechster Größenordnung. Doch die wertvollsten darunter sind jene, in denen es den Architekten gelingt, die Anforderungen der Wirtschaftlichkeit, des Orts, des Maßstabs und des Respekts gegenüber der Umgebung in einem ausgewogenen Verhältnis zu angemessener Architektur zu verschmelzen. Zu den besten Beispielen großartiger Architektur im kleinen Maßstab, in denen die Anforderungen sich erfolgreich mit Ästhetik und Tradition verbinden, gehören ein Bürobau in Lielvārde, Lettland (Architekt: J. Pogas birojs, Riga), ein winziges Hotel, die Villa Smilciu in Palanga, Litauen, (Architekturos Estetikos Studija, Vilnius) oder das Clubhaus des Rudervereins in Viljandi, Estland (PAIK Arhitektid, Tallinn, Abb.). Aus all diesen Beispielen können wir schließen: Auch in der Architektur führt Freiheit des Ausdrucks zu logischen Sätzen, doch in der Beschränkung entstehen selten lesbare Texte.
Danke für Ihr Interesse an meinen Briefen. Nächstes Jahr erzähle ich Ihnen, wie es mit dem Masterplan in Tallin und den gestoppten Projekten in unseren Metropolen weitergegangen ist. Ich wünsche Ihnen alles Gute, und denken Sie daran: Im Chinesischen besteht das Wort »Krise« aus zwei Zeichen – für »Gefahr« und »Chance«.
Beste Grüße,
Visvaldis Sarma leitet das 1993 gegründete Architekturbüro Sarma & Norde in Riga. Er studierte am Polytechnikum in Riga und erwarb seinen Mastertitel an der TU Riga, wo er auch lehrt und über den künstlerisch-kreativen Prozess in der Architektur promoviert.
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