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Mast und Schot

Fußgänger- und Radbrücke in Almere (NL)
Mast und Schot

In der künstlichen Stadt auf den Poldern im Ijsselmeer wird derzeit aus zum Teil expressiven Bauten ein Stadtzentrum »zusammengesetzt«. Die neue Brücke über eine der zahlrei- chen Grachten weiß sich in dieser Umgebung zu behaupten und bewahrt doch eine gewisse spielerische Leichtigkeit. In the planned city on the polders in Ijsselmeer, an urban centre is currently being »assembled« from some at times expressive structures. The new bridge over one of the nume-rous canals holds its own in these surroundings while still retaining a certain light playfulness.

Text: Anneke Bokern

Fotos: Christian Richters, René van Zuuk
Wer in Almere auf der Promenade, die vor dem Wohnblock »The Wave« am Wasser entlangführt, in Richtung des »Silverline«-Hochhauses geht, wundert sich zunächst. In dem kleinen Kanal, der die beiden Bauten voneinander trennt, scheinen mehrere Segelboote zu dümpeln. Man sieht nur ihre schräg über die Kaimauer hinausragenden weißen Masten. Je näher man kommt, desto verwunderlicher wird, warum die Masten sich nicht bewegen – bis sie sich schließlich als Pylone einer kleinen Brücke zu erkennen geben.
Die Fahrrad- und Fußgängerbrücke ist ein Entwurf des jungen Almerer Architekten René van Zuuk, der vor zwei Jahren mit seinem blobbigen Pavillon für das Architekturzentrum Arcam in Amsterdam (siehe db 11/2003) bekannt wurde und auch den benachbarten Wohnblock »The Wave« entworfen hat.
Die Brücke führt über die Olstgracht und verbindet den bestehenden Stadtteil Stedenwijk, der hinter dem »Silverline«-Turm liegt, mit dem neuen Stadtzentrum von Almere, das derzeit am Ufer des Binnensees Weerwater entsteht.
Denn so paradox es klingen mag: Almere, der gesichtslose Reihenhaus-Sprawl auf den neuen Poldern im IJsselmeer – von den Einwohnern auch gerne »Los Almeres« genannt –, soll ein urbanes Zentrum erhalten. Seit 1976 der erste Teil der künstlichen Stadt fertig gestellt wurde und ein Häuflein Pioniere die ersten Einfamilienhäuser mitten im Nichts bezog, ist Almere auf 175 000 Einwohner angewachsen. Im Jahr 2015 soll die Stadt sogar 240 000 Einwohner zählen. Um zu verhindern, dass bis dahin der Platz auf den Poldern ausgeht, erhielt das Büro OMA (Office for Metropolitan Architecture) 1994 den Auftrag, einen Masterplan für ein Stadtzentrum mit hoher Dichte zu entwickeln. Die bislang monofunktionale Schlafstadt soll ein lebendiges Herz mit mehrgeschossigen Wohnblöcken, Geschäften, Freizeitfunktionen und einer weithin erkennbaren Skyline bekommen.
OMA selbst hat eine Tiefgarage und ein Multiplex-Kino für das neue Stadtzentrum entworfen, die letztes Jahr fertig gestellt wurden. Darum herum entsteht derzeit ein buntes Sammelsurium internationaler »Stararchitektur«. Ben van Berkels UN Studio hat einen Büroblock mit feurig irisierendem Innenhof gebaut, William Alsop steuerte ein blobförmiges »Urban Entertainment Center« bei. Ein gigantischer Block von Christian de Portzamparc, dessen Fassaden aufgebrochenem Erdreich ähneln, ist noch im Bau, ebenso wie ein minimalistisch weißes Theater des japanischen Büros SANAA.
Der »Silverline«-Turm von Claus en Kaan gehörte zu den ersten realisierten Projekten, ebenso wie René van Zuuks schuppiger »Wave«-Wohnblock, dessen wellenförmig aufgeblähte Front durch Variationen in der Länge der Betonschotten erzeugt wurde. Er ist zweifelsfrei das expressivste Gebäude in diesem Neubauviertel, in dem ohnehin jedes Bauwerk sich wie eine Primadonna gebärdet und seinem Nachbarn die Schau zu stehlen trachtet.
Der Kanal, den die Brücke überspannt, führt vom Weerwater in einen kleinen Motorboothafen, weshalb die Durchfahrtshöhe nur 2,80 Meter betragen und die Konstruktion kaum gewölbt sein muss. Obwohl er ebenfalls eine ausgeprägte Formensprache hat, scheint der Steg weniger mit der Architektur von »The Wave« als vielmehr mit den Tensegrity-Strukturen von Buckminster Fuller verwandt. René van Zuuk konzipierte ihn als abgespannte Mastkonstruktion, die im Ansatz eine klassische Hängebrücke ist, bei der die Kräfte aber über Zugseile auf drei zusätzliche Masten verteilt werden.
Die beiden getrennten Spuren für Fahrräder und Fußgänger führen über fünf doppelte Querbalken, in denen je ein schräger Mast steckt. Gleichzeitig ist jeder der Doppelbalken mit vier Zugkabeln von den zwei benachbarten Masten abgespannt. Die beiden äußeren Doppelbalken werden direkt von gekrümmten, über Kreuz stehenden Stützen getragen, die auf Betonfüßen im Wasser ruhen. Was weder Fußgänger noch Radfahrer sehen können, sondern nur Bootspassagiere vom Kanal aus erkennen, ist der Tensegrity-Charakter der Brücke. Die inneren drei Masten reichen nicht, wie man von Land aus annehmen würde, bis ins Wasser, sondern enden bereits etwa einen Meter unterhalb der Gehebene. Ihre in die Luft ragenden Enden sind durch vorgespannte Zugkabel miteinander verbunden, die so dünn sind, dass man sie im Schatten unter dem Steg kaum wahrnimmt.
»Nichts im Universum berührt irgendetwas«, schrieb Buckminster Fuller zur Erklärung des Tensegrity-Konzepts, an dem er ab 1947 gemeinsam mit seinem Studenten Kenneth Snelson arbeitete und das die historische Strategie des Konstruierens umkehrt. »Die technische Konstruktionsanalyse (der Ingenieure) ist durch die Auffassung von einer kontinuierlichen Kompression bestimmt, und die Natur macht von so etwas niemals Gebrauch.«1
In Tensegrity-Strukturen ist Zugspannung primär und Druck sekundär. Daraus resultiert eine Ästhetik des Unmöglichen, die – wenngleich in geringerem Maße als Snelsons ephemere Skulpturen – auch van Zuuks Brücke kennzeichnet. Auf den ersten Blick ist unverständlich, wie die Masten die Brücke tragen können ohne auf irgendetwas zu ruhen. Erst auf den zweiten Blick werden die Kräfteverhältnisse deutlich.
René van Zuuk bezeichnet seine Brücke selber als »urbane Hängematte«. In den Augen der meisten Betrachter dürfte ihre Formensprache dennoch weniger Assoziationen an netzförmige Bettstätten als an Segelschiffe hervorrufen. Werden Schiffsanalogien in der Architektur aber meist über rumpf- oder segelartige Formen herbeigeführt, so diente hier die Takelage als Vorbild. Um die Bildhaftigkeit noch zu verstärken, erhielten Zugkabel und Masten eine weiße Farbe, wurden die notwendigen Lampen in die elf Meter hohen Pylone integriert und Stahlkabel als Handläufe verwendet. Die Brüstungen sind ein wenig nach innen geneigt, damit es nicht zu Kollisionen mit den Abspannseilen kommt.
Das Schiffsthema passt natürlich gut zur Lage der Brücke in unmittelbarer Nähe zum Weerwater. Und obwohl die Konstruktion angesichts der geringen Spannweite vielleicht ein wenig bemüht wirkt, kann man ihr nicht absprechen, dass sie der Brücke etwas Leichtes, Schwingendes verleiht. Der dynamische Eindruck entsteht vor allem vom Land aus, wenn die in unterschiedliche Richtungen geneigten Pylone zu tanzen scheinen wie die Masten von Segelschiffen auf kabbeligem Wasser. Vom Kanal aus bietet sich dagegen zunächst ein ruhigerer, symmetrischer Anblick. Aber auch diese Ruhe ist nur von kurzer Dauer und wird von den durchgesteckten Masten auf den zweiten Blick unterwandert. So klein sie ist, hat die Brücke doch mehrere Gesichter und bedarf einer gewissen Wahrnehmungszeit.
In der architektonischen Kakofonie des neuen Stadtzentrums weiß sie sich jedenfalls auf subtile Art gut zu behaupten. Den bauchigen, massiven Strukturen in ihrer Umgebung setzt sie mit ihren in scheinbar zufälligen Winkeln in den Steg gespießten Masten eine mikadohafte, spielerische Ästhetik gegenüber. A. B.
¹ aus: Inventions. The Patented Work of R. Buckminster Fuller, 1983, zitiert in: J. Krausse/ C. Lichtenstein (Hg.), Your Private Sky, R. Buckminster Fuller, Baden 1999, S. 408
Gesamtlänge: 42 m Spannweite: 24 m Grundfläche: 264 m² Höhe: 12 m
Bauherr: Stadt Almere (NL) Architekt: René van Zuuk Architekten, Almere (NL) Tragwerksplanung: Advies en Ingenieursbureau van de Laar, Eindhoven (NL) Baukosten: 800 000 Euro Fertigstellung: Ende 2004
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