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Grenzenlos

Evangelische Stiftung Alsterdorf in Hamburg
Grenzenlos

Die größte diakonische Einrichtung Norddeutschlands verändert sich in einem beispiellosen städtebaulichen Umwandlungsprozess von der geschlossenen Behinderteneinrichtung zum modernen Stadtteilzentrum. Nach Räumung minderwertiger Bauten und unter Hinzufügung neuer Gebäude ist das Gelände heute für die Öffentlichkeit zugänglich. Die parkähnliche Anlage sowie neu geschaffene Einkaufs- und Versorgungsmöglichkeiten am wieder belebten Marktplatz werden auch von den Bewohnern aus der Nachbarschaft ganz selbstverständlich angenommen. The largest social welfare organization in northern Germany is changing in an unprecedented town planning transformation process from an enclosed institution for the disabled to a modern new town quarter centre. After rigorous removal of low quality buildings the grounds are today accessible to the public. The parklike grounds, as well as many new shopping and service facilities at the now busy market place, find great acceptance, dispite the unusualness, among the inhabitants of the neighbourhood.

Mit Behinderteneinrichtungen will eigentlich niemand so recht etwas zu tun haben. Noch heute gibt es Bürgerproteste, wenn in Wohngebieten Projekte dieser Art geplant werden. Jahrelang hat die Gesellschaft dieses Thema tabuisiert. Hinter hohen Zäunen – unsichtbar aufbewahrt – wurden die betroffenen Menschen in Gebäuden, die eher Gefängnissen als Wohngebäuden ähnelten untergebracht.

Dabei war die Idee von Pastor Heinrich Sengelmann gut gemeint, als er 1863 mit den ersten geistig behinderten Kindern auf ein Gelände außerhalb der Stadt Hamburg zog, um ihnen dort die notwendige Fürsorge zukommen zu lassen. Zwar entwickelten sich die »Alsterdorfer Anstalten« zur größten diakonischen Einrichtung Norddeutschlands, aber irgendwann geriet das siebzehn Hektar große Gelände in seiner Struktur außer Kontrolle. Über Generationen hinweg wurden, je nach Bedarf, ohne architektonischen und städtebaulichen Anspruch Neu- und Anbauten realisiert. Ein anderes Verständnis im Umgang mit behinderten Menschen zwang die Eigentümer, die Evangelische Stiftung Alsterdorf, neue Überlegungen zur Nutzung ihres Areals anzustellen.
Über die Jahre hinweg hat sich hier hinter den Mauern ein prächtiger Baumbestand entwickelt – viel zu schade, um die kleine »grüne Lunge« den Bewohnern des angrenzenden Stadtteils Alsterdorf vorzuenthalten. Das junge Architekturbüro Winckler Röhr-Kramer + Stabenow hat die weitere Planung unter intensiver Beratung aller Beteiligten in die Hand genommen: Wenn schon Öffnung, dann auch richtig, mit Aufenthaltsqualitäten, über die andere Stadtteile auch verfügen. So unstrukturiert das Gelände zum Schluss auch erschien, verfügte es im Südwesten sehr wohl über eine zentrale bauliche Ordnung mit den wichtigsten Versorgungsgebäuden. Hier bot sich die Gelegenheit, anzuknüpfen: Heruntergekommenes abzureißen, Erhaltenswertes zu sanieren und Neues hinzuzufügen, um Platz für Einkaufsmärkte, kleine Läden, Restauration und Büros zu schaffen. Obwohl damit alle Vorraussetzungen für ein kleines Zentrum gegeben waren, gab es noch einige Hürden zu überwinden – Hürden im wahrsten Sinne des Wortes, denn die »Konversion« war nicht darauf angelegt, die eigentlichen Bewohner zu vertreiben. Zwar war man schon lange dazu übergegangen, je nach Grad der Behinderungen, Wohngemeinschaften über das gesamte Stadtgebiet zu verteilen, dennoch sollten 270 Behinderte verbleiben. Das bedeutet eine weitgehend barrierefreie Benutzbarkeit aller Straßen, Wege, Plätze und Gebäude. Das nächste Problem war, große Handelsketten für das künftige Zentrum als so genannte Ankermieter zu gewinnen, die dieser ungewöhnlichen »Bevölkerungsmischung« skeptisch gegenüberstanden. Hinzu kam die etwas versteckte Lage, in der die Verbrauchermärkte erhebliche Wettbewerbsnachteile sahen. Diese Zweifel sind ausgeräumt, denn viele Besucher werden auch von dem gut sichtbaren Parkplatzangebot angezogen.
Die Öffnung des Marktplatzes bot der Stiftung ihrerseits die Chance, Dienstleistungen und Produkte der Behinderten anzubieten. Eine Fahrradreparaturwerkstatt, eine Korbflechterei, ein Secondhandladen und Tagesförderungsstätten mischen sich munter mit Schlecker und Co. Auf dem Wochenmarkt, beim Einkaufen, im Café oder auf Veranstaltungen begegnen sich jetzt ganz selbstverständlich Menschen mit und ohne sichtbare Behinderungen.
Das Rückgrat des Marktes bildet das Ärzte- und Geschäftshaus, ein über hundert Meter langer Neubau, der durch Vor- und Rücksprünge gegliedert ist. Seine wichtige Platzwandfunktion wird durch den kräftigen Erdgeschosssockel aus dunklen Torfbrandziegeln betont. Hier reiht sich ein Laden an den anderen. Das Obergeschoss bietet 6000 m² Fläche für Arztpraxen und Büros. Wie überall gelten auch hier die Bedingungen des freien Marktes, das heißt, eine flexible Grundrissaufteilung ermöglicht Mieteinheiten von 70 bis 500 m².
Für die vier, unmittelbar hinter dem Ärztehaus liegenden Punkthäuser mit Ein-, Zwei- und Vierpersonenapartments gelten diese Gesetzesmäßigkeiten ebenfalls. Die anspruchsvoll gestaltete Anlage, die es mit jedem frei finanzierten Wohnungsbau aufnehmen kann, stellt eine Weiterentwicklung des Wohngruppenmodells aus den achtziger Jahren dar. Dessen Umsetzung wurde damals schon als Fortschritt empfunden gegenüber der Unterbringung Behinderter in Anstalten mit allen Beschränkungen, Normierungen und Bevormundungen für die Betroffenen. In den abgeschlossenen Wohnungen mit hohem Qualitätsstandard lernen die Menschen ohne direkten Bezug zu einem Pfleger ihre Eigenständigkeit zu entwickeln. Für Notfälle oder vereinbarte Hilfestellung stehen so genannte Agenturen bereit, die sich in jedem Haus im Erdgeschoss befinden, ebenso ein Gemeinschaftsraum zur Pflege hausinterner Kommunikation. Die Lage der Häuser ist für dieses, noch in der Probephase befindliche Vorhaben günstig gewählt. Park und Marktplatz liegen vor der Haustür – vor allem der Markt ermuntert mit seinem bunten Treiben, aktiv am Leben teilzunehmen.
Die Entwicklung auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf ist noch längst nicht abgeschlossen, aber schon jetzt bringt sie behinderten Menschen die Wertschätzung entgegen, die sie motiviert und die ihnen hilft, auf ihre eigenen Kräfte zu vertrauen. Schön, wenn dieses Beispiel Schule machen würde. kr
Vom Bauen für Behinderte aus Sicht des Architekten
Als wir planten und bauten, haben wir darüber nachgedacht, wen welche Barrieren behindern könnten. Das Ziel unserer Planung war, das Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf so zu gestalten, dass Menschen mit einem Handicap selbstständig leben können und nicht erst durch gebaute Barrieren »behindert« werden. Dabei geht es nicht nur um Menschen mit Behinderungen. Barrierefreiheit meint die Beseitigung von Hindernissen, die viele Menschen überhaupt erst zu Behinderten werden lassen. Je spezieller die bauliche Lösung, desto aufwändiger ist sie und desto eingeschränkter ist in der Regel ihre Nutzbarkeit. Gute barrierefreie Lösungen, zumindest im öffentlich genutzten Bereich, sollen möglichst universell sein. Individuelle Sonderlösungen können dazu führen, dass deren Nutzer sich wiederum als unnormal oder als Last der Gesellschaft empfinden.
In öffentlich genutzten Gebäuden und Anlagen geht es darum, Orientierung, Erreichbarkeit und Nutzbarkeit für möglichst alle Menschen zu gewährleisten – natürlich auch für die, die dauernd oder zeitweilig kognitiv, sensorisch oder bewegungsbedingt Leistungsausfälle oder -einschränkungen erleben. Sie dürfen aber nicht nur auf die rollstuhlgerechte Benutzbarkeit beschränkt werden. Eine absolut barrierefreie Umwelt kann es nicht geben. Es geht immer wieder auch um Kompromisse.
So ist auch der neue Alsterdorfer Marktplatz nicht auf der gesamten Fläche ideal nutzbar für Rollstuhlfahrer. Aus Kosten- sowie aus ästhetischen Gründen wurden die alten Granitkleinsteinpflaster, die auf dem Gelände vorgefunden und zusammengetragen wurden, für den Marktplatz wieder verwendet. Die leichte und erschütterungsarme Befahrbarkeit für Rollstuhlfahrer im Freien, wie es DIN 18 024 /18 025 vorschreibt, wurde nur erfüllt, indem übergeordnete Geh- und Fahrstreifen mit glatten Betonplastersteinen in die Marktplatzfläche integriert wurden.
Da es sich auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung um eine öffentliche Nutzung auf privaten Grund handelt, gab es einerseits keine öffentlichen Zuschüsse, andererseits ließ dies auch zu, flexibel mit der DIN 18 024/18 025 umzugehen.Trotzdem wurden alle vorhandenen Fußwege zusätzlich mit rollstuhlgerechten Wegeverbindungen ausgebildet, die Pkw-Stellplätze an den Rand des Geländes verlagert und alle Straßen bordsteinlos umgebaut, damit der Fußgänger stets Vorrang vor dem Autoverkehr hat. Diesen Anspruch, auf einer Fläche von siebzehn Hektar durchzuhalten, bedeutete für die Evangelische Stiftung Alsterdorf eine enorme finanzielle Anstrengung. Axel Winckler
Städtebauliche Gesamtplanung: Winckler Röhr-Kramer + Stabenow, Hamburg Landschaftsplanung: arbos Landschaftsarchitekten, Hamburg Verkehrsplanung: Büro Schlabbach, Hamburg Bauherr: Evangelische Stiftung Alsterdorf, Hamburg Architekten (Ärzte- und Geschäftshaus): Winckler Röhr-Kramer + Stabenow, Hamburg Mitarbeiter: Stefan Voss, Paul Broom, Imke Krause, Annegret Koch Architekten (Apartmenthäuser): Stölken Schmidt, Hamburg Mitarbeiter: Karsten Groot, Tanja Grundmann, Matthias Schmidt, Michael Specht, Nicole Stölken Tragwerksplanung: Wetzel & von Seht, Hamburg (für beide Projekte)
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