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Grenzen öffnen

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Grenzen öffnen

Dem städtischen Quartier sind seit 2005 vom Bundesministerium für Verkehr Bau und Stadtentwicklung eigene Forschungsfelder gewidmet. Quartiere sollen als Wohnort attraktiver werden und sozial wie ökonomisch stabilisiert werden. Das Quartier wird damit als eigene stadtpolitische Handlungsebene abseits der großen Prestigeprojekte und neben den Interventionen in Problemgebieten gestärkt. Erfolgreich kann dies aber nur sein, wenn man im Blick behält, dass der Begriff des Quartiers immer nur relativ sein kann.

Text: Christian Holl

Es scheint, als habe man sich im Städtebau in den letzten Jahren in kleinen Schritten dem Quartier als relevanter Größe genähert. Ablesbar ist diese Veränderung in den Begriffen. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten war vor allem vom Bau neuer Siedlungen oder Großsiedlungen die Rede – eine Wortwahl, die an Neuanfänge und Pioniertaten denken lässt und die Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit dessen, was geplant wird, in den Vordergrund rückt. Seit einigen Jahren nun wird meist auf den Begriff des Stadtteils, des Viertels oder des Quartiers zurückgegriffen, entsprechend häufig ist von Quartiersmanagement oder Quartiersplanung die Rede. Viertel, Quartier, Stadtteil: stets wird darauf rekurriert, dass die Interventionsebene ein Teil eines Ganzen – der Stadt – ist. Auch wenn die Programmatik neuerer Stadtteile – etwa des Freiburger Rieselfelds oder des Rebstockparks in Frankfurt – im Vergleich zu älteren Siedlungen oft so anders nicht zu sein scheint (in Bayern spricht man ja immer noch von Siedlungsmodellen), weist die geänderte Begriffswahl doch auf zwei bedeutende Sachverhalte hin. Zum einen muss das Quartier nicht alles enthalten, was eine Stadt ausmacht. Zum anderen wird der Wunsch artikuliert, dass sich das neue »Stück Stadt« eng mit dem Rest der Stadt verbinden möge, funktional wie gestalterisch. Die Erwartung an das Quartier wird nicht überstrapaziert, es hat das Recht, von der Stadt etwas zu erwarten, gleichzeitig wird sein Stellenwert gehoben – das Quartier ist ein Teil der Stadt, ohne den sie unvollständig bliebe.
Ein neues Verständnis von Stadt und Planung
Die Änderung der Wortwahl ist kein Zufall. Sie ist die Folge eines anderen Verständnisses von Stadt und Planung, das sich seit den sechziger Jahren entwickelt hat. 1966 warnte Hans Oswald vor der »überschätzten Stadt«, davor, die Erwartung an Nachbarschaften zu überziehen und außer Acht zu lassen, dass jeder Bewohner ein eigenes Beziehungsgeflecht innerhalb der Stadt aufbaut; ein Stadtteil, folgerte er daraus, darf daher nie als autonome Einheit betrachtet werden. In den Siebzigern etablierten sich Stadterneuerung und der Umbau im Bestand als neue städtebauliche Aufgaben, später stellten die Planungen von zum Teil großen Stadtteilen auf Industrie- und Gewerbebrachen die Frage nach der Verknüpfung zur bestehenden Stadt – allesamt andere gestalterische Aufgaben, als es die Planung von Trabanten auf der grünen Wiese gewesen waren. Die Geschichte des Ortes, dessen Beziehung zur Stadt wurde zur neuen Herausforderung für die Planung, die Relikte der alten Nutzung wurden in die Neuplanungen einbezogen und nicht selten als identitätstiftende Elemente besonders betont.
Dazu kam, dass seit den Neunzigern der Blick vom Baulichen stärker auf den Bewohner gelenkt wurde. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass Probleme dort gelöst werden müssen, wo sie entstehen oder sich räumlich konzentrieren. Daneben etablierte sich ein Politikverständnis, das von einer Versorgungs- zur Aktivierungsstrategie überging. Benachteiligte Menschen sollten befähigt werden, ihre Abhängigkeit von sozialstaatlicher Fürsorge zu überwinden. Beides findet sich in der europäischen Gemeinschaftsinitiative URBAN wieder, mit der 1994 erstmals ein europäisches Förderprogramm geschaffen wurde, das sozial benachteiligte Stadtteile in den Mittelpunkt stellte; in Deutschland wurde aufbauend auf Programmen einzelner Länder 1999 das Programm »Soziale Stadt« gestartet – Interventionsebene: der Stadtteil. Stärkung der Eigeninitiative, die Entwicklung von Bürgerbewusstsein für den Stadtteil, selbsttragende Bewohnerorganisationen und stabile soziale Netze sind die Ziele, die mit dieser Stadtpolitik verfolgt werden. Die Arbeit im Quartier wird dabei als Querschnittsaufgabe verstanden, in der gestalterische, ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte zusammengeführt werden.
Neue Herausforderungen
In absehbarer Zeit wird die Stadt vor weiteren Herausforderungen stehen, und es liegt nahe, diese frühzeitig und vorausschauend anzugehen. Da ist auf der einen Seite die Notwendigkeit, nachhaltige Strukturen zu entwickeln; die Stadt der kurzen Wege anzustreben heißt fast automatisch, sich gezielt mit Stadtteilen und deren infrastruktureller Versorgung auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite stehen die Herausforderungen, die sich durch die demografische Entwicklung ergeben. Will man der zunehmenden Zahl älterer, in ihrem Aktionsradius eingeschränkten Menschen und den auf ihr unmittelbares Wohnumfeld angewiesenen Kindern und Jugendlichen gerecht werden, muss man Quartiere gezielt in den Blick nehmen. Nicht zuletzt, weil Menschen eher bereit sind, Familien zu gründen, wenn sie für ihre Kinder ein lebenswertes Umwelt erwarten können. Daneben wird auch hierzulande begonnen, was in anderen Ländern wie den Niederlanden oder der Schweiz bereits geschehen ist, es den Menschen zu ermöglichen, so lange wie möglich in ihrer Wohnung zu bleiben, wodurch zudem das Zusammenleben der Generationen und Kulturen verbessert wird. Betont wird hierbei, dass der Mensch und seine konkrete Lebenswelt, die Handlungsoptionen des Einzelnen im Alltag im Mittelpunkt stehen.
Dabei stellt sich aufs Neue die Frage, was das Quartier eigentlich ist. Man würde wichtige Erkenntnisse über Bord werfen, würde man wieder danach streben, feste Grenzen zu definieren. Gewiss gibt es bürokratische Notwendigkeiten dafür, aber trotzdem: Das Quartier mit fest umrissenen Grenzen darf es nicht einmal als Konstrukt geben, gerade wenn man dem einzelnen Bewohner gerecht werden will. Dann nämlich gibt es fast so viele Quartiere wie es Bewohner gibt. Dieses scheinbare Dilemma ist aber genau die große Chance und das eigentlich Interessante bei der Planung von und in Quartieren: Jede Intervention, jedes neue Gebäude, jede Gestaltung des Freiraums verändert das, was Quartier für den Einzelnen bedeutet. Das Leben im Quartier zu verbessern heißt, Menschen in der Stadt eine Heimat zu geben, aber genauso auch, Räume zu öffnen, die Verbindungen zur übrigen Stadt und darüber hinaus zu verbessern. Deswegen ist die Planung im Quartier so wichtig. •
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