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Gölzstraße 6

Stadthaus in der Tübinger Südstadt
Gölzstraße 6

Eines der derzeit wohl interessantesten Wohnquartiere der Republik, die Tübinger Südstadt, nähert sich der Vollendung. Ihr Prinzip, Baublöcke wie in einer Altstadt aus vielen, unabhängig voneinander geplanten Häusern zu kombinieren, bedeutete häufig auch: Architektur in Lücken einfügen oder mit noch unbekannten Nachbarn rechnen – hier eines der innovativen Projekte des Loretto-Areals. One of the most interesting residential districts in Germany at present, the Südstadt in Tübingen, is nearing completion. Its principle of combining infill sites created by many independently designed buildings, as in an Old Town, can also be seen as a strategy which prefers to insert architecture in gaps rather than reckon with as yet unknown neighbours. Here is one of the innovative projects.

Text: Christoph Gunßer

Fotos: Michael Rasche
Um neun Uhr aus dem Haus, kurz zum Fotografen um die Ecke, dann zum Zahnarzt, wenig später sitzt er schon im Büro, frei vom Pendlerstress, denn er hat alles zu Fuß erledigt. Rüdiger Krisch erlebt Tag für Tag die Vorzüge der »Stadt der kurzen Wege«. Nach Lehrjahren in New York, München und Stuttgart entschied er sich ganz bewusst, im Modellquartier seiner Heimatstadt Tübingen ein Haus für sich zu bauen. Aus New York, wo er vier Jahre lebte, hat er auch die wesentlichen Ideen für sein Haus mitgebracht, nämlich das über eine einläufige »Himmelsleiter« erschlossene, nutzungsneutrale Loft à la SoHo und das Stadthaus, wie es als »Brownstone« viele New Yorker Straßenzüge prägt.
Als Assistent am Wohnbau-Lehrstuhl der Uni Stuttgart gewann Krisch weitere typologische Einsichten hinzu, und so bewarb er sich schließlich mit einem stringenten Konzept um einen Bauplatz in der Südstadt. Rund fünf Meter breit sollte er sein und das Haus darauf vier Geschosse hoch – nur drei Häuser im Quartier sind so winzig, manche dagegen vierzig Einheiten groß. Höhenabhängige Grundstückspreise machten dieses Nebeneinander möglich – und die Regel, dass ein schlüssiges Konzept bei der Vergabe den Ausschlag gibt.
Ursprünglich für eine Ost-West-Ausrichtung gedacht, bekam das Haus eine annähernd nord-süd-orientierte Parzelle an dem fünfeckigen Hof zugewiesen, der das südwestliche Entrée zum Loretto-Areal bildet. Breitschultrigere Mehrfamilienhäuser nehmen Krischs Haus und seinen Nachbarn hier in die Mitte – fast meint man, die Kleinen hätten sich nachträglich hineingezwängt. Doch es war gerade umgekehrt: Das Ensemble der Goliaths wuchs um die Davids herum, so mächtig, dass Krisch seinerseits den gerade fertigen Rohbau anstückeln ließ; das Flachdach wurde straßenwärts verlängert, was die Atelierfenster dort steiler macht als geplant. Südstadtschicksal: Hier wird der B-Plan erst rechtsgültig, wenn alle Parzellen bebaut sind. Ähnlich unorthodox muss es in den Altstädten früher auch zugegangen sein. Und die Südstadt ist ja so etwas wie eine Altstadt aus neuen Häusern.
Stoisch behauptet sich Krischs kleines Stadthaus, auf nur 94 Quadratmetern Grund errichtet, durch Reduktion und Klarheit. Die Fassaden tragen nüchtern nach draußen, was das Haus ausmacht: drei gestapelte Lofts an einem schmalen Treppenhaus, darüber, der Südstadt-typischen Hüllkurve eingeschrieben, ein Staffelgeschoss mit einem Penthouse (die Hüllkurve definiert die größtmögliche Höhenentwicklung jedes Hauses). Die ebenfalls südstadttypische Sonderbehandlung des Erdgeschosses – hier ist eine gewerbliche Nutzung vorgeschrieben – findet architektonisch nicht statt: kein Sockel, kein Schaufenster; stattdessen ein abgehobenes Hochparterre, das Freiberufler ohne Laufkundschaft als Nutzer locken soll.
Bislang wird das Haus vertikal zweigeteilt genutzt: Die unteren zwei Etagen sind zusammen vermietet, Künstler verbinden hier Wohnen und Arbeiten. Oben wohnt der Architekt. Doch sowohl eine Dreiteilung als auch die Nutzung als Einfamilienhaus sind ohne Umbauten möglich. Die leichten Nasszellen, neben der Querwand die einzigen Einbauten im offenen Loft, sind auf den schönen Ziegelestrich gesetzt und darum komplett demontabel.
Besonders »einsichtig« wird die Freiheit des Loft-Konzeptes an der Hoffassade: Wohnregal hat man so etwas andernorts genannt, denn zwischen den zwei Brandwänden spannen sich nur die vier Bodenplatten und das Dach, alles andere scheint flexibel teilbar – die Pfosten und Riegel der Fassade und die versetzt zueinander angebrachten Falttüren überspielen die durch die Himmelsleiter entstandene Asymmetrie. Doch wer genauer hinsieht, kann hier quer durch das Haus hindurchschauen.
Das fast haushohe Ausmaß dieses Erschließungsschachtes – immerhin rund sechs Meter bei nur einem Meter Breite – ist in seiner betonierten Kargheit, mit den bewusst gesetzten, rahmenlosen Öffnungen als Ziel der Treppenkaskade spannend inszeniert. Mag auch der Weg hinauf auf die Dauer nicht leichter fallen als im Standardtreppenhaus – Himmel und Höh(l)e sind selten so präsent wie hier.
Während im Standardloft Fenster und edel satinierte Gläser zur Straße hin für eine der engen Stadtlage angepasste Balance aus Deckung und Ausblick sorgen, weitet sich das kleine Haus unter dem Dach zum lichtdurchfluteten Raum-Schiff von dreieinhalb Metern Höhe. Beidseits verglast und nicht durch Einbauten geteilt, gibt der Allraum den Blick frei auf den Tübinger Schlossberg einerseits, das vorgelagerte Sonnendeck samt Tomatenkulturen andererseits. Kein Zweifel: Hier erlebt Bau-Herr Krisch das eigentliche Loft-Feeling. Tief unten nun der Trubel von Straße und Hof, hier oben herrscht relative Ruhe, man atmet alternativ Atelierluft im Norden oder schwäbisch-balkonische Bruthitze auf der Südseite. Bietet die Auskragung der Betondecke der Dachwohnung Schutz vor allzu intensiver Sonneneinstrahlung, so sollen – sobald sich der Baustaub im Hof gelegt hat – außen liegende weiße Vorhänge einer Überhitzung der übrigen Lofts entgegenwirken.
Das Haus verfügt über eine mechanische Lüftungsanlage mit zentralem Wärmetauscher, ist aber auch an die im Quartier obligatorische (teure) Fernwärme angeschlossen. Da es wenige Außenwände hat und die Fassaden hochgedämmt und dicht sind, liegt der Heizenergiebedarf des Hauses unter dem Niedrigenergiestandard der EnEV. Als Massivbau mit weitgehend unverhüllten Oberflächen verfügt das Gebäude über eine beträchtliche Speicherkapazität für passive Solargewinne. Diese rohen Betonoberflächen, zwar nicht als Sichtbeton ausgeschrieben, aber sauber ausgeführt, passen gut zum robusten Loft-Konzept. Sie kontrastieren mit dem hellen Holz der Fassadenprofile und Stufen und dem warmen Rot der Böden, auf denen wiederum die wenigen, pfiffigen Einbaumöbel als solide Tischlerarbeiten für Ordnung sorgen.
So ist im (architektonisch manchmal zu) bunten Südstadtviertel ein ruhiges, zurückhaltendes Haus entstanden, das gerade in seiner Klarheit und Strenge viel Freiheit für die Entfaltung städtischen Lebens bietet. C. G.
Bauherr: Rüdiger Krisch, Tübingen Architekten: Krisch+Partner, Tübingen Mitarbeiter: Rüdiger Krisch (verantwortlich); Gerald Goldbach (Projektleitung) Tragwerksplanung: Hans-Ulrich Ströbel, Tübingen Haustechnik: Tobias Efferenn, Tübingen Elektroplanung: Ingenieurbüro Günter Hölldampf, Stuttgart Wohnfläche: 151 m² Gewerbefläche: 49 m² Kellerfläche: 50 m² Baukosten: 302 000 Euro Fertigstellung: Oktober 2003
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