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Funktionalistisch und verspielt: spanisches Design der letzten 70 Jahre

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Funktionalistisch und verspielt: spanisches Design der letzten 70 Jahre

Liebe db,

ich zappte gestern durch das TV-Abendprogramm und landete bei »Supercasas«: Dort befreit ein Designer-Architekt die Luxusvillen Prominenter von Plüsch, abgewetzten Ledersofas und persönlichen Erinnerungsstücken und stattet sie dann mit statusgerechtem Design aus. Oder er baut gleich ganz neu. Zum Schluss inszeniert sich der Hausherr mit dem umgestalteten Domizil als Teil einer designbewussten Upperclass. Man zeigt, was man hat, und wer nichts hat, schaut zumindest, was er gerne hätte. Design ist zum Statussymbol geworden in einem Spanien, das lange nur wenig und nun viel mehr als nur Statusdesign zu bieten hat.
Wo fängt man an, wenn man von diesem Design-Wandel erzählt? Vielleicht bei der international bekanntesten spanischen Designerin, Patricia Urquiola, die dieses Jahr ihren 50. Geburtstag feiert. Die Asturierin zählt zu den großen Vorbildern des hiesigen Designnachwuchses. Als Urquiola 1961 geboren wurde, gehörte die Möbel- und Produktgestaltung in Spanien eher zum Tätigkeitsgebiet von Architekten. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts blühte in Barcelona der Modernisme, der katalanische Jugendstil: Aus dem Formenreichtum von Gaudí (i Cornet), Puig i Cadafalch, Domènech i Montaner und natürlich des Surrealisten Dalí hätte das gestaltete Produkt vom Kunsthandwerk zum Industrieprodukt wachsen können. Doch der Bürgerkrieg in den 30er Jahren legte das Land produktiv, kreativ und finanziell lahm. Erst in den 50er Jahren bemühten sich v. a. Architekten um das Industriedesign – nun ganz funktional und inspiriert von Bauhaus und Le Corbusier. Doch in der Industrie fanden die Gestalter nur wenig Unterstützung für ihre Ideen. Die Unternehmen hatten gerade erst ökonomisch wieder Fuß gefasst, und unter Francos Einfluss zeigten sie sich wenig experimentierfreudig. So blieb Industriedesign eine Pionierdisziplin engagierter Architekten, meist aus Madrid und Barcelona, wie Oriol Bohigas, Antoni de Moragas, Josep Martorell, Miguel Milá, André Ricard und einige andere. Die Moderne der Meister der Nachkriegszeit wirkt bis heute in den Entwürfen spanischer Designer nach.
Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, mit dem politischen und sozialen Wandel, dem Ende der Ölkrise und einer aufstrebenden spanischen Wirtschaft, boomte auch die Kreativbranche mit interdisziplinären Designideen. Der valencianische Designer Javier Mariscal etwa, Jahrgang 1950, begann seine Karriere mit Comic-Illustrationen und entwirft seither vom Plakat bis zum Möbel – hier »Alessandra« [1] für Moroso – fast alles, ganz aktuell den wunderbaren Animationsfilm »Chico y Rita«. International bekannt wurde Mariscal mit dem Entwurf des Maskottchens für die Olympischen Spiele 1992. Überhaupt bewirkten die Entscheidungen für Olympia in Barcelona und die Weltausstellung in Sevilla eine Euphorie im Land. Mode, Grafik, Möbel, Küche – das spanische Design sprang damals auf alles über und fand international Anerkennung.
Anfang der 80er Jahre begann Patricia Urquiola in Madrid ein Architekturstudium, damals der übliche Weg zum Design. Wenig später setzte sie ihre Ausbildung in Mailand fort, wo die Designausbildung weniger an architektonische Aspekte geknüpft war. Wie Urquiola gingen einige ihrer Generation zur Ausbildung ins Ausland, nach Italien, Frankreich oder England. Auch Jaime Hayon, einer der jüngsten und derzeit bekanntesten Designer, lernte in Paris und Italien und bringt heute u. a. üppige, barock anmutende Formen und Farben in das spanische Design. Die Designer des Büros Emiliana Design, Ana Mir und Emili Pádros, studierten in London und entwickeln heute Objekte mit gradlinig-grafischer Form – Abb.: »ZigZag« [2] für Kettal – und in Anlehnung an die Natur. Alle drei, Hayon, Mir und Pádros, gründeten in den 1990er und 2000er Jahren ihre Büros in Barcelona, wo übrigens auch Mariscal arbeitet. Auch wenn Urquiola in Italien blieb: Ihre Freude an Textilien, Strukturen und haptischen, handwerklichen und verspielten Details wie in den Sesseln »Antibodi« [3] für Moroso teilen viele Designer hierzulande.
Material und neue Fertigungstechniken gewinnen seit den 90er Jahren immer mehr an Bedeutung. Wie bei Martin Azúa, der mit Biomaterialien, Plastik und Stoffen Produkte, Möbel, Rauminstallationen und Innenarchitektur entwirft – z. B. das Kunststoff-Waschbecken »Simplex« [4] für Cosmic. Nach wie vor prägt der Funktionalismus das spanische Design, bei den lang Etablierten wie Oscar Tusquets, Lluis Clotet und Jorge Pensi genauso wie bei den denen der Generation Urquiola wie Ramon Esteve, Francesc Rifé und Mario Ruiz, der das modulare Sofa »Flat« [5] für Gandia Blasco entwarf.
Barcelona ist derzeit der kreative Pool, auch weil sich hier mit der ersten Designschule Spaniens, der Elisava, eine der renommiertesten Ausbildungsstätten Spaniens befindet. Auch nach der Ausbildung zieht es viele Designer in die Mittelmeermetropole. Pensi z. B. ist in Argentinien geboren, ebenso wie Antonio Lievore, der heute zusammen mit den Deutschen Jeanette Altherr und dem Katalanen Manel Molina ein klares, geradliniges Design, etwa »Saari« [6] für Arper , entwirft. Aber auch in Valencia und Madrid finden sich immer mehr interdisziplinäre Designteams zusammen. Viele sind nicht nur digital und international vernetzt, sondern machen das digitale Zeitalter selbst zur Entwurfsfrage u. a. mittels CAM. Auch neue ökologische Strategien wie abbaubare Materialien und Recyclingverfahren reagieren auf aktuelle Gesellschaftsfragen. Immer dabei ist die kollektive Identität. In Valencia arbeitet die Gruppe Culdesac interdisziplinär und international. So wird es in Zukunft vielleicht keine individuellen Designstars mehr geben, sondern eine ganze Milchstraße voll spanischer Designideen.
Vorerst aber zieht der Designername bei »Supercasas«. Urquiola aber hat solche Fernsehshows auch zu ihrem 50. Geburtstag nicht nötig. Felicidades, Patricia!
Saludos cordiales, ~Rosa Grewe
Rosa Grewe liebt Flamenco, das Mittelmeer – und spanische Architektur. Für ein Jahr streift sie quer über die iberische Halbinsel und entdeckt Stadt, Land und Stadtrand, Küste und Landschaft, Unterschiede und Bekanntes. Sie studierte Architektur in Darmstadt und ist seit 2006 Architekturjournalistin.
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