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Ein strahlendes Jahrzehnt

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Ein strahlendes Jahrzehnt

Für die Architekten in Deutschland waren sie eine goldene Zeit, die neunziger Jahre, als es galt, die neuen Bundesländer in »blühende Landschaften« zu verwandeln, sich in der neuen Hauptstadt einzurichten und in den alten Bundesländern den Boom zu nutzen. Die Architekturchronisten verzeichneten die Nachwehen der Postmoderne, des Technizismus und das kurze Strohfeuer des Dekonstruktivismus. Die Neubelebung der Moderne ging mit einem signifikanten Qualitätssprung einher und schloss Sonderbewegungen wie den Minimalismus und die technische Moderne mit ein. Nach zögerlichem Anlauf wuchs die Erkenntnis, dass Architektur ökologischen Kriterien zu genügen hat. In den Neunzigern wurden die Grundlagen dessen gelegt, was wir heute – ein wenig nebulös – als Nachhaltigkeit bezeichnen.

Text: Falk Jaeger

Die Immunreaktion der Moderne gegenüber der Postmoderne hatte nicht auf sich warten lassen. Im Bestreben, die Moderne zu erneuern, trafen sich ältere, der Moderne immer treu gebliebene Kollegen wie Gerber, gmp, von Seidlein, Schweger, Schürmann mit solchen, die die Postmoderne hinter sich gelassen hatten wie Jourdan/Müller und jungen wie Schneider + Schumacher, Ingenhoven, Braunfels, Fink + Jocher. Auch die Behnisch-Schule der südwestdeutschen »demokratischen Architektur« hatte ihren Anteil daran. Aus dem Sonderbiotop Berlin stießen Léon Wohlhage, Sauerbruch Hutton und Barkow Leibinger hinzu.
Ziel war, die Defizite der in die Jahre gekommenen, als korrumpierter Bauwirtschaftsfunktionalismus denunzierten Moderne abzustellen und die in der postmodernen Phase gewonnenen Errungenschaften beizubehalten. Es galt, Anonymität zu vermeiden und wieder den Ortsbezug der Bauten und damit die Identifikationsfähigkeit zu pflegen. Man wollte die Banalität der Moderne überwinden, indem man die Konstruktion und die Funktion wieder mehr zum Sprechen bringt. Man wollte die Aufenthalts- und Lebensqualitäten verbessern, indem man auf Farbe und Materialwirkung und damit auf Anmutung und Atmosphäre wieder Wert legt.
Diese Ziele sind weitgehend erreicht worden und haben folgerichtig zu einer Ausdifferenzierung in verschiedene Unterströmungen geführt. Es gab wieder die auf honorige Beispiele aus den zwanziger Jahren in Norddeutschland zurückgreifende Backsteinmoderne mit Architekten wie Mäckler, Tonon, Kister Scheithauer Groß, Bienefeld, Dudler, Lederer Ragnarsdóttir Oei, Anfangs noch Kollhoff und Kahlfeld.
Es gab die aus dem inzwischen formberuhigten Technizismus erwachsene technische Moderne, wie sie Norman Foster erfolgreich propagiert hatte und die in Deutschland von Ingenhoven, Schneider + Schumacher, Becker Gewers Kühn & Kühn und anderen vertreten wurde.
Es gab nach wie vor die als leicht und heiter apostrophierte südwestdeutsche Architektur in der Nachfolge Behnischs, die bei Teams wie 4a, Drei Architekten, Wulf und Partner, Kauffmann Theilig & Partner und anderen zwar an Nonchalance verlor, aber an Verbindlichkeit, Präzision und bautechnischer Perfektion zugewann.
Und es gab die verhältnismäßig isolierte Sonderentwicklung in Berlin, wo bei der architektonischen Kolonisierung Ost-Berlins und bei der Einrichtung der Hauptstadt unter einem Senatsbaudirektor Hans Stimmann nur zum Zuge kam, wer »berlinische« Architektur offerierte. In der Folge vergaßen die Architekten, was Raum und Atmosphäre ist und füllten die Innenstadt mit Straßenrandbebauung maximaler Geschossflächenstapelung und vorgehängten steinernen Fassaden. Sieht man vom Kanzleramt ab, hatte selbst in der Sondersituation Berlin, aber auch im übrigen Deutschland, die noch junge internationale Tendenz zu »signature buildings« keine Chance. Spektakuläres Architektur-Branding sollte es in deutschen Landen erst im darauffolgenden Dezennium geben.
Die Kunst der formalen Reduktion
Eher entgegengesetzte, erstaunlich wirkungsvolle Einflüsse kamen aus Vorarlberg und aus der Deutschschweiz, die man unpräzise als Minimalismus oder als Neue Einfachheit bezeichnet hat. In der Schweiz hatte man in Perfektion vorgeführt, was deutschen Architekten am Herzen liegt: ordentliche Konstruktion und Materialgerechtigkeit quasi als moralische Imperative. Staunend beobachtete man, wie Baukünstler wie Peter Märkli oder Peter Zumthor den Weg zur reinen Lehre verfolgen konnten; wie sie mit leichter Hand die Bilderflut abschüttelten, mit der die Architektur anderenorts als Konsum- und Modeartikel zu Erfolg zu kommen suchte.
Es ging nicht um die Würde der einfachen Materialien, sondern um die Exklusivität der Wirkung des sorgsam ausgewählten Materials. Die »wahre« Neue Einfachheit, vorzugsweise an Architekturen kleineren Zuschnitts in Form schlichter Holzhäuser und erratischer Betonkuben – unter Weglassen oder raffiniertem Wegkonstruieren aller Details zelebriert – besitzt die Aura der Askese, die in Zeiten des Überflusses an Sinnesreizen ihren Charme entwickelt. Das folgenreichste Beispiel war sicherlich 1992 die Sammlung Goetz in München von Herzog und de Meuron.
Man darf die stereometrischen Gehäuse allerdings nicht mit den der Form entsagenden Kisten verwechseln, die Rem Koolhaas als »generic« bezeichnet – unspezifische, ortsungebundene »Container«, die flexibel zu verwenden sind, aber eben nichts darzustellen haben. Die »Schweizer Kisten« sind zeichenhaft und trotz extremer Reduktion aus der Interpretation der jeweiligen topologischen Situation heraus entwickelt.
Was diese transmorphologisch-alpine Fels- und Bohlenarchitektur auch im niederdeutschen Flachland attraktiv (und scheinbar wiederholbar) machte, ist ihre Abstinenz an regionalistischem Formenvokabular. Die Abstraktion der Berghütte ist eine Schwester der abstrahierten Fischerkate. Vielleicht hat man nur die Dachneigung anzupassen.
Dekor wird straffrei
Doch auch der andere Weg, begangen in den neunziger Jahren von den Stars der Basler Szene, verführte zur Nachfolge. Das am archaischen Objekt eingeübte Materialgefühl schlug oft genug in Materialverliebtheit um. Ob Edelstahl oder Gusseisen, ob Sperrholz oder Siebdruckglas, ob Sandstein oder Gabionen, es ging um das erzeugte Bild, es ging um Material als Dekor. Und es führte bei Herzog und de Meuron eine direkte Linie zum vegetabilen Dekor. Efeu lässt man nicht mehr natürlich wachsen, sondern es sind Plastikranken, die an der Zentralapotheke in Basel die Fassaden hinaufklettern. Der nächste Schritt ist Pflanzendekor auf den Fassadenplatten geätzt, gedruckt, ausgestanzt, auch diese Tendenz haben HdM eingeläutet, und schließlich gingen sie 1997 den letzten Schritt hin zum Dekor, bei der Bibliothek in Eberswalde, wo sie ein Bildprogramm in die Betonfassadenplatten gießen ließen. Am Ende des Jahrzehnts war das Dekor in jeder Hinsicht enttabuisiert und die Jungen wälzten wieder Dekorvorlagenbücher beziehungsweise fütterten ihre Rechner mit Dekorvorlagen aus Datenbanken.
Doch auch ein anderes Tabu geriet ins Wanken. Plötzlich war festzustellen, dass die Architekten nicht grundsätzlich und zweifelsfrei auf der Seite der Historismusgegner zu finden sind, sondern viele sich zur populären Historienbauerei und zur Kulissenschieberei verführen ließen. Einige Kollegen entledigten sich kurzerhand der Moralvorstellungen der Moderne und konvertierten zum ernsten Reduktionsklassizismus mit bedenklicher Nähe zu Troost und Speer wie Hans Kollhoff oder zum fröhlichen Säulendrechseln al Palladio wie Petra und Paul Kahlfeld. Sie bereiteten den Boden für spätere Rekonstruktionsdebatten in Frankfurt, Braunschweig, Berlin und anderswo.
Schluss mit Ökoromantik
Als die etablierten Parteien in den neunziger Jahren den Umweltschutz als politische Aufgabe zögerlich anerkannten und dieses Feld nicht mehr allein den Grünen überlassen wollten, konnten sich ökologische Aspekte auch in der Architektur allgemein durchsetzen. Worauf die ehemals noch belächelten Bio- und Ökoarchitekten schon in den späten siebziger Jahren in missionarischem Eifer pochten, nämlich auf die unausweichlichen Notwendigkeiten, auf die Ökobilanz von Baustoffen zu achten, nachwachsende Rohstoffe einzusetzen, erneuerbare Energieformen zu nutzen und den Primärenergieverbrauch von Bauten gegen null zu fahren, das hat sich in den neunziger Jahren an den Hochschulen und in der Baupraxis als Zielvorstellung und Maxime durchgesetzt und ist in das Bewusstsein der Handelnden, aber auch in die Gesetzgebung eingegangen. Der unermüdliche SPD-Abgeordnete Hermann Scheer, Präsident von Eurosolar und Chairman des Weltrats Erneuerbare Energien, der seit drei Jahrzehnten auf die bedrohliche Entwicklung hinweist und mehr und mehr Zustimmung erfährt, steht mit an der politisch-gesellschaftlichen Front der Kämpfer für eine ökologische Architektur. Norman Fosters offensives Auftreten als umweltbewusster Architekt in Deutschland, das im Bau des »Ökohochhauses« der Commerzbank in Frankfurt gipfelte, hat der Sache sicher Schub gegeben. Aber auch namhafte deutsche Architekten, etwa Thomas Herzog, Sauerbruch Hutton, Christoph Ingenhoven, Bothe Richter Teherani und Auer + Weber, propagierten die Sache mit ihren Bauten – nicht immer ganz überzeugend, doch meist sehr effektiv und erreichten schließlich, dass Begriffe wie Energiebilanz und nachhaltiges Bauen Eingang in die Ausschreibungen fanden und für die Investoren zum Standard wurden.
Neue Baustoffe, Bauweisen und Bautechniken wurden erforscht, von Werner Sobek, von Thomas Herzog, von Rolf Disch. Letzterer entwickelte das »Plusenergiehaus«, das letztlich eine positive Primärenergiebilanz aufweist, und zwar nicht als teures Experimentalhaus (davon gab und gibt es zahlreiche), sondern als bezahl- und finanzierbares Familienhaus. Er begann auch die Zusammenarbeit mit einem Fertighaushersteller, immer in der Absicht, die ökologisch korrekte Bauweise auch für den normalen Häuslebauer zur Alternative werden zu lassen.
Altlast
Die Städtebaulehrstühle übten ihre Studenten in ungewohnten Formalismen. War man in den achtziger Jahren zu Raumkompositionen und urbaner Vielfalt zurückgekehrt, war nun wieder Zeilenbau angesagt, mit Häusern wie von der Strangpresse. Unterschiedliche Gebäudelängen und Abstände sollten für Differenzierung sorgen. Urbaner Raum hatte sich zwischen den Zeilen zu entwickeln. Mit diesen Strukturen ging man in Freiräume innerhalb bestehender Städte und absolvierte die wenigen Stadterweiterungssiedlungen, die damals gebaut wurden. Denn städtebaulich gab es in den neunziger Jahren in den beiden Teilen Deutschlands durchaus eine disparate Entwicklung. Im Westen trocknete der soziale Wohnungsbau aus, im Osten war Rückbau ungeliebter Plattenbauten angesagt. Ging es im Westen nicht mehr um Expansion und Verkehrsoptimierung, sondern um Konsolidierung, Verdichtung, Ertüchtigung der überkommenen »europäischen Stadt«, stand in den neuen Bundesländern die Verkehrsinfrastruktur im Vordergrund.
Eine bedeutsame Fehlentwicklung im Osten stellt die Ansiedlung einer Vielzahl von großformatigen Einkaufszentren im Umkreis der Städte und an den Autobahnen dar, bedingt durch die rascheren und einfacheren Baugenehmigungsroutinen gegenüber innenstädtischer Standorte. Bei geringerer Wirtschaftskraft doppelt so viel Einzelhandelsverkaufsfläche pro Einwohner als in Westdeutschland, die Lösung des nächsten strukturellen Großproblems steht bevor.
Nur wenig architektonische Errungenschaften aus den achtziger Jahren haben aus heutiger Sicht Bestand, vieles wirkt nurmehr kurios oder hat sich überlebt. Die neunziger Jahre glänzen, soweit man das heute einschätzen kann, mit Nachhaltigkeit, in formaler wie in konzeptioneller Hinsicht. Das neue Jahrtausend kann sie nur noch mit Superlativen und spektakulären »signature buildings« übertreffen. •
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