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Das so genannte Anonyme

Gedanken zum Wegesrand
Das so genannte Anonyme

{ Text: Dietmar Steiner

Meine ersten Begegnungen mit »Architektur« fanden durch die Ausbildung in der technischen Mittelschule für Hochbau statt. Da lernten wir von einem begnadeten Professor Baudetails von Prouvé, Gropius, Mies und so weiter. Aber war das schon »Architektur«? Ich begann meinen Blick zu schärfen und versuchte, meine Umgebung in gut oder schlecht Gebautes abzutasten und einzuteilen. Kriterien dafür gab es zunächst keine, jedenfalls spielte groß oder klein dabei keine Rolle. Also begann ich mit Gartenhütten und erkannte, dass es entweder ruhige, bescheiden klassische, ohne jede scheinbare Ambition gab, oder besonders originelle und persönliche. Welche davon die architektonisch besseren Gartenhütten waren, konnte ich nicht entscheiden und kann es bis heute nicht. Aber es gab welche »dazwischen«, und die waren einfach wirklich schlecht.
Erst später las ich die Schriften von Adolf Loos und erkannte, dass es auf groß und bedeutend nicht ankommt, sondern dass die wahren Monumente eben am Wegesrand liegen: »Wenn wir im Walde einen Hügel finden, sechs Schuh lang und drei Schuh breit, mit der Schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist Architektur.« – Das schrieb der große Adolf Loos in seinem Aufsatz »Architektur«, 1910. Er verwahrte sich darin einer unendlichen architektonischen Sucht nach Originalität und gebauter Einzigartigkeit, hinterfragte das Geplante und Gebaute nach ihren »Stimmungen«, die sie im Benutzer und Betrachter auslösen. Und wenn wir diese Stimmungen suchen, dann finden wir sie nicht selten weit abseits jener spektakulären Objekte, die heute dem Markt der üblichen Aufmerksamkeit der medialen Verwertung von Architektur ausgesetzt sind. Es sind dann die Objekte »am Wegesrand«, mit architektonischer Ambition gestaltet oder auch nur irgendwie geschehen, von ewig unbekannt bleibenden Autoren geschaffen. Oft unbedeutende Objekte, die sich einschreiben, in jede Biografie jedes individuell gelebten Lebens, als Orientierungspunkte und Merkmale, nur selten bewusst. Die Architekten sind dafür Experten und wissen um diese geheime Architekturgeschichte. Ich kenne keinen intellektuell reflektierten und bedeutenden Architekten, der nicht zu später Stunde, beim dritten Glas Wein, von der Faszination von ihm entdeckter beiläufiger Objekte »am Wegesrand« erzählen würde.
Das allein ist keine neue Entwicklung. Schon immer hat sich die Architektur von der Beobachtung und Einverleibung des Alltäglichen und des Ruralen genährt. Die Spannweite reicht hier von den Untersuchungen, die der amerikanische Urbanist Kevin Lynch schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts anstellte und erkannte, dass sich die Menschen im Alltag am Nebensächlichen und nicht am architektonisch Bedeutenden orientieren: der Briefkasten an der Hausecke, die Parkbank, die Bushaltestelle. Bis hin zu den Forschungen und Erkundungen von Bernard Rudofsky, der im Alltäglichen ruraler Gesellschaften den wahren Quell für neue »Lebensweisen« entdeckte und in Publikationen und Ausstellungen thematisierte: »Architecture without Architects« sei nur als Slogan dafür benannt.
Nun sind wir wieder einmal an einem Wendepunkt der Architekturgeschichte angelangt. Angesichts der Inflation des Spektakulären, die den Fortschritt der Architektur nur mehr in immer neuen und immer exaltierteren Formen der Rendering-Software zu generieren glaubte, schlägt nun das Pendel zurück in die Beobachtung des Alltäglichen unserer Konsumgesellschaft, in die produktive Wahrnehmung des scheinbar Unerheblichen. So erinnere ich mich an die Architekturbiennale 2002 in Venedig, als in- mitten der angestrengt ambitionierten Präsentationen aller Länder, Estland mit gebotener Selbstironie die morphologische Vielfalt individuell gebauter »Scheißhäuser« präsentierte. Und wir im Architekturzentrum Wien wenig später eine Studie über estnische Buswartehäuschen mit unerwartet großem Erfolg zeigen konnten. All dieses Nebensächliche bekam seine Bedeutung durch das sanfte Lächeln, die stille Freude, die sich in den Mienen der Besucher breitmachte. Eine seltsame Form der Entspannung von all den sonstig sich so bedeutsam gebenden erratischen Diamanten von Star-Architekten.
Immer schon hat der Architektur hier der Kunst diese Richtung der Wahrnehmung gezeigt. Nicht nur dass Duchamps »Flaschentrockner« bereits 1914 eine bis heute anhaltende Richtung des Dialogs von Kunst und Wirklichkeit etablierte, sind es auch heute Künstler, die durch ihre Installationen der Architektur den Weg in die Wirklichkeit weisen können. Nur als Beispiel dafür haben Michael Elmgreen and Ingar Dragset eine gefakte »Prada«-Boutique gebaut in Marfa, Texas. Der magische Ort, den sich Donald Judd auserkoren hatte, um dieses Niemandsland mit seinen Spuren zu tränken. Und insgesamt hat die »Kunst im öffentlichen Raum« unsere Wahrnehmung für das Nebensächliche geschärft. Ihre Interventionen sind meist nur durch die Schärfung und Verschiebung der Wahrnehmung überhaupt als künstlerischer Eingriff zu erkennen. Das ist gut so. Denn nur so werden wir wieder eine Architektur »vom Anfang an« denken können, wenn wir das Alltägliche, das so genannte Anonyme, die verlorenen Objekte am Wegesrand als ernsthaften, weil existierenden Beitrag zur gestalteten Umwelt und damit auch als Material der Anverwandlung erkennen können. Übrigens, um doch von großer Architektur zu reden. Wissen Sie, welches das schönste und bedeutendste Gebäude von Montreal ist: eine Tankstelle von Mies van der Rohe aus dem Jahr 1968. •
Dietmar Steiner ist Direktor des Architekturzentrum Wien und Präsident der Internationalen Konföderation der Architekturmuseen. Privat berät er ambitionierte Bauherren und schreibt gelegentlich Texte.
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