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Bewegung – ein Spiel

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Bewegung – ein Spiel

Bewegung wird unterschiedlich definiert. Die Physik sagt, wenn Materie oder ein Körper im betrachteten Bezugssystem abhängig von der Zeit seinen Ort verändert, ist er in Bewegung. Gemessen wird die Geschwindigkeit. Grundsätzlich ist ein Raum ein definierter Bereich, begrenzt durch feste Bauteile oder andere Grenzen. In der Regel verbinden wir mit dem Begriff Raum etwas Statisches. So gesehen ist der Begriff »Bewegter Raum« ein Widerspruch in sich. Dennoch kann ein Raum seinem Betrachter ein Gefühl von Bewegung vermitteln, etwa durch eine wellenartig geformte Wand, einen unregelmäßigen Fußboden oder eine dynamische Wegeführung. In begrünten Räumen findet tatsächlich Bewegung statt, in Form von Wachstum, was allerdings in einer Geschwindigkeit vor sich geht, die für uns ohne entsprechende Hilfsmittel kaum wahrnehmbar ist. Wenn wir dagegen auf einen Raum mit geraden, starr wirkenden Begrenzungen und Strukturen schauen, wird es schwieriger, die Bewegung zu erahnen. Um in diesem Fall Bewegung zu assoziieren, müssen wir darüber etwas wissen, zum Beispiel, dass die Wände bewegt werden können. Erst dann sehen wir das Potenzial des Raumes, die Möglichkeit zur Bewegung, die in ihm steckt, gleichsam in gespeicherter Form.

Bewegung braucht ein Zeitsystem, auch dieses ist unterschiedlich. Während bei der wellenförmigen Wand die eigentliche Bewegung – das Klicken und Ziehen der Computermaus – lange zurückliegt, ist die Bewegung bei einem Raum, der durch bewegliche Wände flexibel gestaltet werden kann, unberechenbar, zeitweise, häufig oder selten, letztendlich zufällig. Sie kann jederzeit wieder stattfinden.
Die Absicht, was Räume zu »bewegten Räumen« macht, hat ebenfalls verschiedene Gründe. Bewegung braucht immer einen Bezugspunkt von dem sie abweicht. Der Bezugspunkt, das Starre, Herkömmliche, Gewohnte will definiert werden. In den meisten Fällen ist es die Gerade. Von dieser weichen geschwungene Wände durch ihre Form ab. Die zündende Idee liegt als Punkt im Koordinatensystem aus Spiel und Funktionalität, mal mit Schwerpunkt in die eine, mal mehr in die andere Richtung. Die Bewegungen, die wir in verschiedenen Räumen wahrnehmen, deuten nicht darauf hin, dass es darum ginge, den Wald der geraden Linien zu roden, wie es einst Hundertwasser mit allerdings anderer Intention gefordert hat, sondern darum, die geraden Linien zum Schwingen zu bringen. Im Zeitalter von CAD und Bezier-Kurven ist dies ein Leichtes und doch nicht alltäglich. In der Umsetzung, im Übergang von der Virtualität zur Realität, wird die bewegliche Bezier-Kurve zum festen Material. Der Verlust der Kontrollpunkte, die für die Bewegung elementar sind, lassen die Bewegung erstarren. Und doch bleibt die Absicht dahinter weiter erkennbar.
Bewegung hat eine Veränderung zur Folge, meist sind diese Veränderungen entweder direkt sichtbar, im Größerwerden der Pflanzen, in geschwungenen Linien, in der Veränderbarkeit der Räume oder – und das macht Bewegung interessant – die Bewegung verlässt das Bezugssystem und wirkt auf den Betrachter. Denn Bewegung ist nicht nur aktiv, sondern auch passiv. Nicht nur »ich bewege mich«, sondern auch »es bewegt mich«.
Bewegung schafft Anreize, lädt ein zum zweiten Blick, der meist genauer und unvoreingenommener ist als der erste. Bewegung macht aufmerksam, lenkt unseren Blick, aber auch unser Gefühl, macht aus dem Zweckmäßigen das Besondere. Bewegung ordnet und hebt Ordnung auf, Bewegung kann erstarren oder reversibel sein. Sie verlangt unserem Gehirn die Neuberechnung der Bildpunkte ab, wenn wir sie im Augenblick ihrer aktiven Existenz wahrnehmen.
Bewegung macht beweglich, weil sie Anpassung fordert. Sie ordnet uns unter, zwingt uns zum Umdenken und zur Neuorientierung. In einer Zeit, wo wir glauben, jedes Hotel, jedes Kaufhaus oder jede Apotheke als solche sofort zu erkennen, fordert eine andere, nicht gewohnte Architektur einen neuen Blick. Wenn wir glauben zu wissen, dass Gärten und geschwungene Böden im Freien zu finden sind, verlangt uns das Gegenteil ein Nachdenken darüber ab, ob das so sein muss. Und wenn wir der Meinung sind, dass ein Loft sich durch gerade Linien kennzeichnen lässt, weil alles andere unpassender Zierrat wäre, bringt das Gegenteil Vorurteil und Wahrnehmung in Konflikt.
Bewegung hält uns auch im physiologischen Sinne beweglich. Sie dirigiert, zieht an, lockt und weist uns zurück, immer nötigt sie uns eine Reaktion ab. Viel mehr fordert sie wache Aufmerksamkeit. Die Attraktivität bewegter Räume liegt darin, dass ihr Betrachter sich positionieren muss, gezwungen wird, eine Haltung anzunehmen oder eine andere Haltung abzulegen. Wir, die wir glauben, alles im Griff zu haben, geraten über die kleinste Unebenheit im Boden ins Straucheln. Bewegte Räume trainieren unseren Geist, schulen unsere Reaktionsfähigkeit und spielen mit uns.
Das Spiel, das diese Räume mit uns spielen, macht Spaß. Und nicht nur dem Betrachter macht es Spaß. Bei aller Ernsthaftigkeit, die bei der Planung gefordert ist, war es auch spielerische Neugier, ein Ausprobieren, ein Ausloten aller Möglichkeiten, was diese Räume zu dem gemacht haben, was sie sind. Mehr noch, die Vorgaben, die der Ort, der Bauherr oder die Art der Nutzung von uns abverlangt, sind erfüllt und auch übertroffen worden, weil die Planer beweglich waren, ab- und ausgewichen sind und immer wieder die Kreativität ins Spiel gebracht haben. Stephen Jay Gould (1941–2002), der renommierte amerikanische Evolutionsforscher, sieht den Erfolg der Evolution nicht in ihrer Krönung durch ein besonders hochentwickeltes Wesen, sondern in der Vielfalt von Organismen auf allen Ebenen. Würde man seine Theorien auf die Architektur übertragen, müsste es heißen: Die architektonische Evolution kennt kein Ziel, sie spielt mit der Vielfalt der Formen. C. V.
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