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Betreff: Nur nichts Gebrauchtes?

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Betreff: Nur nichts Gebrauchtes?

Nach dem letztjährigen Ausflug in den Nordosten Europas veröffentlichen wir in den kommenden zwölf Monaten Briefe aus Barcelona. Unsere Autorin Rosa Grewe, die Sie bereits aus anderen Rubriken kennen, hält sich ein Jahr lang in der katalanischen Metropole auf und wird in deren soziale Mikrokosmen und die vernetzte Architekturwelt eintauchen, aber auch aus dem Süden Spaniens und aus dem unbekannten Zwischenland berichten. Den Anfang machen ihre Beobachtungen zum Verhältnis der Spanier zu Alt und Neu.

Liebe db,
unseren Umzug nach Barcelona planten wir mit einem Kleinwagen. Seither kenne ich die Innenmaße unseres Autos millimetergenau, die Unverbindlichkeit von Listen vermeintlich wesentlicher Dinge und das Mitgefühl für ein Vehikel, das sich unter schwerer Last tief in seine Achsen senkt. Für Möbel hatten wir keinen Platz und wollten diese vor Ort kaufen, secondhand, damit es nicht zu teuer würde. Schon sahen wir uns über Trödelmärkte auf der Jagd nach spanischer Designgeschichte. »Vergeßt es«, meinte unsere Maklerin, »einen Secondhand-Handel gibt es kaum. Der Spanier mag es neu, Möbel, Wohnung und Architektur, alles soll neu sein.«
Eine gewagte These, doch was ist dran? Sicher gibt es auch in Spanien eine Wertschätzung des Alten, besonders dort, wo es in einem glanzvollen oder musealen Zusammenhang steht. In den Dörfern mit römischer, etruskischer, maurischer und mittelalterlicher Geschichte: bei den Palästen Granadas, Sevillas und Madrids, den Kathedralen sowieso, den Museen und Stiftungen. Auch die Altstadtkerne, viele Ramblas und Plätze wurden in den letzten Jahrzehnten saniert und locken Einheimische wie Touristen zum Bummel.
Statt der puren Restaurierung alter Bauwerke fügen spanische Architekten gerne zeitgemäße Elemente hinzu. Das Neue und das Alte stehen dabei oft wie selbstverständlich nebeneinander, unverkrampft und undogmatisch. Wie zum Beispiel beim alten Wehrturm und den Überresten der Festung des andalusischen Dorfes Huescar[1]. Der Architekt Antonio Jiménez Torrecilla sanierte den alten maurischen Turm und die angelagerte Wehranlage aus dem Jahr 1434. Er ergänzte sie mit Holzelementen, baute eine 360-Grad-Aussichtsplattform und schuf einen Ausstellungs- und Veranstaltungsraum. Mit einer modernen Architektursprache verband er Historisches und Zeitgenössisches.
Gleich ein ganzes Haus ergänzten die Architekten Sol Madridejos und Juan Carlos Sancho aus Madrid: Mitten in der Altstadt von Alicante erweiterten sie das Museum für zeitgenössische Kunst, das in einem alten Palast neben der Basilika untergebracht war[2]. An den nun sanierten Altbau grenzt ein neues Betongebäude, das sich nach außen mit einer Steinfassade dezent in das Viertel einfügt. Im Innern aber bringen Galerien und Oberlichter Luft und Licht in das Gebäude. Beide Sanierungsprojekte zeigen, mit welchem Feingefühl und welcher Wertschätzung in Spanien historische Bauten saniert werden.
Ganz Unrecht hat unsere Maklerin aber nicht: Denn weniger liebevoll gehen Stadtverordnete und Planer mit Industriebauten und mit neuerem Bauerbe um. So z. B. beim Umbau des Poble Nou, einem ehemaligen Industrie- und Arbeiterviertel in Barcelona (s. auch db 5/2010, S.12). Die Investoren des Großprojekts mit dem Namen 22@Barcelona haben großen Ehrgeiz und lechzen nach neuer, imagebildender Architektur. Nur wenige der wunderbaren, alten Backsteinhallen bleiben vor der Abrissbirne verschont, und hier und da verkommen die alten Hallen zur Stadtdekoration. Umso bedeutsamer ist das Projekt Can Ricafort, geplant von der Architektin Bernadetta Tagliabue, Barcelona. Das alte Fabrikgelände, im Poble Nou gelegen, war vor der Sanierung in einem erbärmlichen Zustand. Im Auftrag des Sprachkulturzentrums »Casa de Llengües« sanierten die Architekten die alte, lichtdurchflutete Hallenkonstruktion und die fein strukturierten Mauerwände. Die Fassade zum Hof dagegen erscheint in neuer Gestalt, mit einer konvex gewölbten Stahlkonstruktion. Der sorgsame Umgang mit diesen Fabrikhallen ist keine Selbstverständlichkeit im allzu hippen Neubauwahn des Poble Nou, wo neu gebaute Büros, Hotels und Wohnungen modernsten Lebenskomfort versprechen.
Abgewohnte Altstädte, Wohnungen »mit Patina« und abgewetzte Möbel sind, in Stereotypen gesprochen, eher nicht des Spaniers Wohlfühlwelt. Während die Gutsituierten sich also neue Wohnungen und Stadtteile suchen, wohnen in den heruntergekommenen, aber mietgünstigeren Altstadtvierteln Menschen mit niedrigen Komfortansprüchen, Arbeitslose, Geringverdiener, Rentner und Studenten. Nicht immer zahlen sie Miete: Verlassene Häuser sind oft besetzt, rund 300 Hausbesetzungen sollen es in Barcelona im Jahr 2008 gewesen sein. Vielleicht wird es eines Tages diesen Hausbesetzern zu verdanken sein, wenn auch banale, scheinbar wertlose Altbauten vor dem Abriss und der Spekulation verschont blieben, so wie in Deutschland vor vier Jahrzehnten. Vielleicht aber schiebt es nur den Abriss hinaus: In Blickweite zu Nouvels Torre Agbar ragen einzelne zehngeschossige, verwahrloste Stadthäuser in die Höhe; billige Wohnungen mit oft mittellosen Mietern. Drum herum walzen Planierraupen die Abrisshäuser zu neuem Baugrund. Während Menschen in ihren Wohnungen auf die Zwangsräumung warten, beziehen in Sichtweite Touristen neu gebaute Vier-Sterne-Hotels. Keine Frage, eine Aufwertung des ehemals heruntergekommenen Poble Nou ist sicher richtig, die Zerstörung industrieller Baukultur und die Verdrängung der Eingesessenen aber sind empörend. Der Prozess stößt allerdings nur auf leise Kritik, denn es gibt genug Interessenten für die Grundstücke und den Stadtwandel. Anders in Valencia, wo die Planung der Umstrukturierung und des großflächigen Abrisses historischer Bausubstanz im Fischerquartier El Cabanyal massive Proteste auslöst. Die Stadtverordneten möchten eine Schneise in die Altstadt schlagen und so die hinteren Stadtteile über eine neue Rambla mit der Küstenlinie verbinden. Eine Bürgerinitiative, auch gestützt von Architekten und Kulturschaffenden, engagiert sich laut mit Demonstrationen und juristischen Mitteln dagegen, wohl wissend, dass dem baulichen Wandel ein sozialer folgt.
Dort, wo das Alte restauriert und saniert wird, entstehen oft nachgefragte Luxuswohnungen in bester Lage. Alte Mauern mit neuem Möbeldesign, so sahen die Architekten Arquitectura-G die Sanierung einer Wohnung im Modernisme-Stil in Barcelona. In der Nähe, am edlen Passeig de Gràcia, planten gca arquitectos, Barcelona, ein anderes Umbauprojekt: Dem Altbau sind einfach zwei Ebenen auf dem Dach und ein Hinterhaus hinzugefügt, das verspricht Neubaukomfort in alter Stadt. Sicher, bei solch einer Bausubstanz fällt die Wertschätzung des Alten ohnehin leicht. Was ist aber mit den Bauten der 60er und 70er Jahre? Dazu fand ich ein wunderbares Projekt: Das Architekturbüro Arquitecturia aus Girona sanierte in Tortosa einen alten Markt, der in den 60er Jahren im franquistischen Stil erbaut wurde[3]. Keine leichte Aufgabe für die Architekten, nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch weil das Gebäude nach der Sanierung als Gemeindezentrum dienen soll. Dafür ergänzten die Architekten einen Stahlbau. Die Fassade des alten Markts veränderten sie zur Straße hin kaum. Aber sie verlegten den Eingang, öffneten seitlich den Sockel und gaben so dem klobig ummauerten Gebäude mehr Leichtigkeit und Transparenz. Die spanische Moderne dagegen liegt oft vergessen und in einem erbärmlichen, sanierungsbedürftigen Zustand, etwa die Fundació Joan Miró in Barcelona[4]. Dabei begründeten ihre Architekten schon während der Diktatur Francos die zeitgenössische Architektur, die die spanische Baukultur später in den 80er und 90er Jahren so berühmt machte.
Stadt- und Bauwerkssanierungen sollen auch in der Provinz mehr touristische Bedeutung und Wohnqualität bewirken. In Peratallaba, einem kleinen Dorf in Nordkatalonien, verursachte die Sanierung zwar neuen mittelalterlichen Glanz, aber mehr Leben brachte es nicht. Es wirkt wie ein touristisches Museumsdorf, wohl auch weil den Wohnungen Licht, Platz und daher Bewohner fehlen. Während die Sanierung in den Küstenregionen Touristen und Hotelbesitzer lockt, kämpfen die Dörfer im Binnenland mit Leerstand und Zerfall. Mit dem Fortzug der jungen Generation in die Ballungsräume verwaisen ganze Landstriche. Fast 600 verlassene Dörfer in Spanien zählt die Webseite pueblosabandonados.es, die meisten von ihnen liegen in Nordspanien. Für weniger als 200 000 Euro Kaufpreis scheinen sie ein Schnäppchen zu sein, die Sanierungskosten würden die Investitionen jedoch extrem erhöhen. Gebraucht, das scheint ökonomisch nicht sinnvoll.
Saludos cordiales, ~Rosa Grewe
Ach, übrigens: Letztlich bezogen wir eine möblierte Wohnung, deren Vermieter uns stolz versicherte, das Sofa sei extra für uns neu gekauft.
Rosa Grewe liebt Flamenco, das Mittelmeer – und spanische Architektur. Für ein Jahr streift sie quer über die iberische Halbinsel und entdeckt Stadt, Land und Stadtrand, Küste und Landschaft, Unterschiede und Bekanntes. Sie studierte Architektur in Darmstadt und ist seit 2006 Architekturjournalistin.
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