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Al sol

Bibliothek in Madrid-Usera
Al sol

Was tun, wenn schöne Ausblicke in einer problematischen Umgebung kaum zu finden sind? Abalos und Herreros variierten das Thema Öffnungen in einer dem zentralspanischen Klima angepassten und der introvertierten Bibliotheksnutzung entsprechenden Weise. Klappen (Paneele) verhelfen dem strengen Bau zu skulpturaler Kraft. What is to be done when problematic surroundings hardly offer fine views? Abalos and Herreros varied the theme of openings in an appropriate way for introvert library usage in the central Spanish climate. Shutters (panels) help to give the severe Building a sculptural force.

Text: David Cohn Fotos: Roland Halbe

Usera, der Ort, an dem die neue Nachbarschaftsbibliothek von Iñaki Ábalos und Juan Herreros steht, ist ein typischer gesichtsloser Vorort. Wie viele andere auch, ist er in der Zeit des Franco-Regimes (1939 – 75) um die innere Peripherie Madrids herum entstanden. Von der Innenstadt durch den Manzanares-Fluss getrennt, erstreckt sich Usera nach Südwesten und bildet zusammen mit den benachbarten Gemeinden einen dichten, endlosen Teppich von drittklassiger Spekulationsarchitektur mit minimalem Standard. Die Blöcke sind eng mit Appartmenthäusern bebaut, die Straßen schmal und in schlechtem Zustand; Bäume fehlen fast völlig. Ursprünglich lebten hier arme, spanische Landflüchtlinge, heute sind es die neuen Immigranten aus Südamerika, Nordafrika und China. Ein großer Teil der Gelder, die nach der Demokratisierung Spaniens in den Ausbau der städtischen Infrastruktur flossen, wurde in diese kruden Wohngebiete investiert, um ein Mindestmaß an Lebens- und Umfeldqualität zu bieten. Das Baugrundstück der Bibliothek von Usera ist charakteristisch für ein solches, infrastrukturell relevantes Projekt: ein steil abfallendes Stück Land am Rande der Nachkriegsbebauung. In der unmittelbaren Nachbarschaft befinden sich das Bezirksrathaus aus den achtziger Jahren, ein neues medizinisches Versorgungszentrum und eine Reihe von provisorisch untergebrachten sozialen Einrichtungen. Das gesamte Areal ist von parkartig bepflanzten Terrassen geprägt und grenzt an einen neuen, gepflasterten Platz, der den Fußgängern vorbehalten ist.
Die meisten Architekten, die 1995 an dem Wettbewerb für die neue Bibliothek teilnahmen, sahen vor, den Baukörper zu terrassieren und dem Hang anzupassen, um das Grundstück nicht zu sehr zu verändern. Im Gegensatz dazu entwarfen Ábalos und Herreros – wie auch die Architekten des nahe gelegenen medizinischen Zentrums – eine halb in den Hang geschobene Plattform, auf der ein Turm steht. Damit wollten die Architekten ein Gegengewicht zu der dominanten, kleinteiligen Masse des Bezirksrathauses im Norden setzen und dem neuen Zentrum des Stadtteils einen sichtbaren Identifikationspunkt geben.
Das sehr große Erdgeschoss setzt eine ähnliche Terrasse am Fuße des Bezirksrathauses fort und bildet den räumlichen Abschluss des Platzes, der sich westlich anschließt und Teil des Masterplans war, den Ábalos und Herreros für das gesamte Grundstück aufgestellt haben. Der Platz wird im Norden vom Zentrum von Usera aus betreten. Von hier sieht man den Turm im Halbprofil; er besetzt das Grundstück selbstbewusst und steht sofort im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dies ist vor allem den gereihten Sonnenschutzelementen zu verdanken, die sich dem Betrachter wie steife Fahnen entgegenstrecken, und der Haut aus Metallpaneelen in verwaschenen Champagnerfarben, die fast zu glühen scheinen, wenn sie die Nachmittagssonne reflektieren.
Der Turm und sein Sockel bieten so eine merkwürdige Variation zu Kenneth Framptons alter Figur von »Frontalität und Rotation«, wie er sie auf solitäre Gebäude anwendet. Mit Hilfe des Sockels umgehen die Architekten die Ausbildung einer echten Fassade, obwohl sich hier der Eingang befindet. Der Turm mit seinen Öffnungen hingegen erzeugt eine Spannung zwischen einer dynamischen, kompositionsbedingten Rotation und einem instabilen Eindruck von kantiger, diagonaler Frontalität, die durch die seitliche Annäherung über den Platz in Bewegung gerät. Das Gebäude ist in das Gelände gegraben, und gleichzeitig erhebt es sich darüber; allerdings hat es nicht die Kraft, einen urbanen Ort zu erzeugen. Trotz seiner offensichtlichen formalen Strenge ist sein Verhältnis zum Ort eher vorstädtisch, eher diffus und teilnahmslos, und so ist es der beiläufigen, allgemeinen Orientierungslosigkeit von heute näher als dem knappen, von Terragni inspirierten Formalismus, den Frampton den Arbeiten der New York Five attestierte.
Das Innere der Bibliothek ist so organisiert, dass sich die am häufigsten benutzten Abteilungen wie die Kinderbuchbibliothek, die Leihbücherei und die Zeitschriften im vorderen Teil des Erdgeschosses befinden, während Lagerräume und andere nicht öffentliche Bereiche im hinteren, unterirdischen Teil untergebracht sind. Der Turm bietet auf drei Etagen Raum für einen Vortragsraum, einen Multimediaraum und einen Lesesaal. Die Räume sind jeweils zweigeschossig mit einem dazugehörigen Mezzanin, das die Erschließungszone definiert und die Nebenräume beherbergt, eine Typologie, wie sie für Le Corbusier oder Louis Kahn typisch ist. Die Architekten hingegen fühlten sich von einem alten Lissaboner Café zu dieser Anordnung inspiriert.
Eines der spektakulärsten Ereignisse im Innern der Bibliothek ist es, mit dem gläsernen Aufzug zu fahren und dabei die exponierten Bodenplatten zu sehen. Die Geschossdecken sind als Vierendeel-Roste ausgebildet, um über eine Spannweite von 14 Metern die verblüffend geringe Dicke zu erreichen. Die Wände des Lesesaals sind mit einem typografischen Design tapeziert, das der Nordamerikanische Künstler Peter Halley auf der Grundlage von Jorge Luis Borges‘ Text »Die Bibliothek von Babel« und mit Bezug auf das Konzept der Architekten entwickelt hat.
Die Fenster wurden vor allem so angeordnet, dass interessante Ausblicke entstehen, aber auch, um eine Beziehung zu der diagonalen Annäherung über den Platz vor dem Museum herzustellen. Erst während der Rohbau entstand, entdeckten die Architekten, dass es auf der Rückseite des Gebäudes attraktive Blickbeziehungen zur Innenstadt von Madrid gibt, und sie konnten einige Fensteröffnungen noch dementsprechend verschieben. Die Sonnenschutzelemente haben nicht nur die Funktion, die nach Westen gerichtete Hauptfassade zu verschatten, sie sollen auch die Blicke der Besucher lenken. Hinter den großen Eckfenstern befinden sich Sitzecken mit Sofas, in denen man entspannter als im Lesesaal lesen kann. Aus Kostengründen sind die Sonnenschutzelemente nicht beweglich, was zudem den Unterhalt vereinfacht. Dennoch sind sie als Teile der Fassade konzipiert, die den Eindruck erwecken, sie seien wie die Türchen eines Adventskalenders aus der Wand herausgefaltet worden. Die Täuschung geht so weit, dass die Innenseite der Sonnenschutzelemente mit Peter Halleys Buchstabentapete beklebt ist, ein Detail,
das auch von außen sofort auffällt.
Die Bibliothek in Usera ist ein meisterhafter Versuch dazu, was Ábalos und Herreros als »pragmatische« Entwurfshaltung bezeichnen, inspiriert von Alejandro de la Sota und seiner Art, Allerweltsmaterialien und Halbzeuge zu frischen, coolen, modernen Räumen zu fügen. Diese Nostalgie ist nicht elitär, wie die der New York Five; sie ist eher poppig, aber ohne jenen banalen Funktionalismus und den herablassenden, gezwungenen Hedonismus von Venturis dekoriertem Schuppen. Stattdessen bieten Ábalos und Herreros eine menschlichere und elegantere Verbindung von Kunst und Verstand, in der Charles und Ray Eames Andy Warhol treffen oder Hannes Meyer in Champagner getaucht ist. D. C.
Übersetzung aus dem Englischen: Maren Harnack Bauherr: Comunidad de Madrid Architekten: Abalos und Herreros; Inaki Abalos, Juan Herreros, Angel Jaramillo Bauleitung: Dolores Minarro Freie Mitarbeiter: Rocío Rein, Pablo Puertas, Miguel Kreisler Tragwerksplaner: José Manuel Sierra, Juan Gómez
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