Die Hauptbahnhöfe in Stuttgart und Ulm sind jeweils riesige Baustellen, die den Nutzern viel Geduld und immer neue Wege abverlangen. Die Ulmer haben den Stuttgartern dabei allerdings etwas voraus: eine preisgekrönte Brücke, die nicht nur gestalterisch ihresgleichen sucht, sondern auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Ingenieuren und Architekten herausragend ist. Dieser Ansicht war auch die Jury des 16. Ulrich Finsterwalder Ingenieurbaupreises, die das Bauwerk mit einer Auszeichnung würdigte.
Die 270 m lange Kienlesbergbrücke überspannt das Gleisgewirr auf der Nordseite des Ulmer Hauptbahnhofs und führt die neue Straßenbahnlinie 2 von der Innenstadt zur sogenannten Ulmer Wissenschaftsstadt, die derzeit einen starken Wachstumsschub erfährt. Bei Bedarf können auch Busse des Schienenersatzverkehrs die Brücke nutzen. Viel Platz wurde Radfahrern und Fußgängern eingeräumt, die auf der Südseite über einen breiten, sich stellenweise aufweitenden Weg flanieren können. Von dort eröffnen sich neue, ungewohnte Ausblicke auf die Stadt.
Das interdisziplinäre Team aus badischen Ingenieuren und englischen Architekten überzeugte beim 2010 ausgelobten Planungswettbewerb mit einem selbstbewussten, durchdachten Entwurf. Die komplexen Randbedingungen und den gewünschten Bezug zur benachbarten, denkmalgeschützten Neutorbrücke mit ihren geschwungenen Obergurten und genietetem Fachwerk brachten sie überzeugend mit dem Tragwerk in Einklang.
Das Lichtraumprofil der Bahnstrecken gab die minimale Höhe der Konstruktionsunterkante vor. Die Brückenpfeiler ließen sich wegen der dichten Gleisführung weder orthogonal zur Brückenachse noch in gleichmäßigem Abstand anordnen, woraus eine Maximalspannweite von knapp 75 m resultiert. Das Haupttragwerk wurde deshalb als Trog mit Fachwerkträgern ausgebildet. Die in der Höhe variierenden Träger aus lichtgrau lackiertem Stahl spiegeln die unterschiedlichen Feldweiten des Durchlaufträgers wider und führen zu einer Wellenform.
Die Trägergefache sind als beidseitig offene Sitznischen mit Holzbänken ausformuliert und verwandeln die Brücke in einen Aufenthaltsort. Rückseitig angebrachte, unscheinbare Netze verhindern, dass man unabsichtlich auf die Straßenbahnschienen gelangt. Die »Wellentäler« des Fachwerkträgers lassen sich hingegen leicht übersteigen. Um das zu verhindern, bedarf es allerdings einer besseren Lösung als die gegenwärtig aufgestellten rot-weißen Baustellenabsperrungen. Dann kann die Kienlesbergbrücke zeigen, was sie ist: ein modernes Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst.
- Standort: Kienlesbergbrücke, 89073 Ulm
Ingenieure: KREBS+KIEFER Ingenieure, Karlsruhe; Klähne Beratende Ingenieure im Bauwesen, Berlin
Architekten: Knight Architects, Bartlomiej Halaczek, High Wycombe
Bauzeit: Juli 2015 bis Dezember 2018