Die Europäische Union hat einige architektonische Monster geboren: In Straßburg, in Luxemburg und erst recht im Zentrum der belgischen Hauptstadt. Im Moment ihrer schwersten Krise schlägt die EU architektonisch und städtebaulich nun einen vielversprechend sanfteren Weg ein: Um in der engen und verbauten Brüsseler Innenstadt ein »Haus der Europäischen Geschichte« unterzubringen, wurde dem kleinen Maßstab des Zentrums kein weiteres EU-Furunkel hinzugefügt, sondern ein Altbau aufgestockt: Das Gebäude mitten im Europaviertel war einst als Zahnklinik für arme Kinder konzipiert und von dem Amerikaner George Eastman, dem Erfinder der Kodak-Kamera, gestiftet worden. Der im Grundriss U-förmige Monumentalbau von 1935 des Schweizer Architekten Michel Polak thront über dem Leopold-Park. In einem vom EU-Parlament organisierten Architekturwettbewerb zum Umbau des Gebäudes erhielten Chaix & Morel mit JSWD den ersten Preis. Sie schufen neue Ausstellungsflächen im Hof und auf drei neuen Etagen. Eine elegant detaillierte Glasbox ragt über den Altbau hinaus. Vor- und Rücksprünge der Museumsräume dahinter scheinen in der transparenten Kiste mit längs bedruckten Gläsern zu schweben. Das seinerseits gläserne Tragwerk der Doppelfassade wurde gemeinsam mit Werner Sobek, Stuttgart, entworfen. Als »harmonisches Ganzes« sollen Alt- und Neubau »das Ideal Europas repräsentieren« – ein hoch gestecktes symbolisches Ziel. Bedauerlich ist, dass die Szenografie im Innern Alt- und Neubauanteile komplett ignoriert und stattdessen die EU-Geschichte als über-mediale Mega-Schau ohne Tageslicht inszeniert. Die einzigen erhaltenen Interieurs im Piano Nobile werden Besuchern vorenthalten. Blicke aus dem Haus heraus auf das umgebende Europa-Viertel gibt es leider nicht. Die Architekten hatten mit einer einläufigen Treppe und Glas-Fahrstühlen im Atrium einen zentralen Erschließungsraum entworfen, den die komplexe Wegeführung durchs Museum konterkariert. Die promenade architecturale, als »gebaute Werbung für die Europäische Idee« gedacht, gipfelt in einer Vitrine mit »Vote Leave«-Ansteckern.
Standort: Rue Belliard 135, B-1000 Brüssel
Architekten: Chaix & Morel, Paris, mit JSWD, Köln
Bauzeit: Dezember 2012 bis Herbst 2016, Eröffnung: Mai 2017