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Tübinger Planspiele

Diskurs
Tübinger Planspiele

Zimperlich waren die Jahrzehnte nach 1945 im Umgang mit dem, was der Krieg von den deutschen Städten übrig

~Amber Sayah

gelassen hatte, bekanntlich nicht. Stadtgrundrisse wurden von einer auf den Autoverkehr fixierten Planung radikal überschrieben, wertvolle historische Bauten ungerührt dem Neuen preisgegeben. Und nun, da die Architektur der 50er, 60er, 70er Jahre selbst historisch zu werden beginnt, scheint es, als sollte sie für die Sünden der Vergangenheit büßen. Zu alt, um noch zu glänzen, aber nicht alt genug, um schon geliebt zu werden, erleidet die Nachkriegsmoderne heute vielerorts das gleiche Schicksal wie damals ihre Opfer; sie wird entsorgt. Die Verlustmeldungen mehren sich – so sehr, dass die Diskussion über Qualitäten und Defizite dieser Epoche, über Abbruch und Erhaltung die Zeitungen erreicht hat und die Bundesstiftung Baukultur sich veranlasst sah, ein Heft ihrer Publikationsreihe diesem Thema zu widmen.
Auch in Tübingen sind zwei denkmalgeschützte Bauten aus der Nachkriegszeit akut vom Abriss bedroht: das studentische Clubhaus von Rolf Gutbrod aus den 50er Jahren und die 1966 eröffnete Mensa von Paul Baumgarten. Beide sind Teil des universitären Ensembles in der sogenannten Wilhelmvorstadt, das von der Neuen Aula (Gottlob Georg Barth, 1841-45) über die Universitätsbibliothek (Paul Bonatz, 1909-12) bis zum Neuphilologikum (Universitätsbauamt, 1974) fast 150 Jahre Hochschulbaugeschichte umfasst. Im Zuge einer baulichen Umstrukturierung, mit der die bei der Exzellenzinitiative des Bundes durchgefallene Universität ihr Image aufpolieren will, sollen die Nachkriegsveteranen nun umfangreichen Neubauvorhaben weichen.
Der städtebauliche Ideenwettbewerb, den Land und Hochschule 2008 für diesen »strategischen Umbau« des Zentralcampus ausschrieben, ermunterte die Teilnehmer ausdrücklich, »ohne Denkverbote« ans Werk zu gehen. Aber selbstverständlich wagte niemand, Hand an die klassizistische Neue Aula zu legen, das Herzstück des Tübinger Campus‘. So weit geht die Lockerung der Denkverbote dann doch nicht. Prämiert wurde ein Entwurf, der aus dem Ensemble das Gutbrod’sche Clubhaus und die Baumgarten-Mensa herauspflückt und nebenbei noch dem historischen Städtebau des 19. Jahrhunderts mit einem Platz quer über die Wilhelmstraße, die schnurgerade Achse des Viertels, das Rückgrat bricht.
Die Öffentlichkeit blieb vom Verfahren ausgeschlossen. Dabei sind beide Bauten eng mit der jüngeren Universitätsbaugeschichte und damit auch der Tübinger Stadtbaugeschichte verknüpft. Gutbrods Clubhaus wurde in der Nachkriegszeit vom amerikanischen Kongress gestiftet, um als Mittelpunkt studentischen Lebens und Begegnungsstätte für die verschiedenen Fakultäten und Nationen die »Demokratie in der Gemeinschaft« zu fördern. Als stark frequentierter studentischer Treffpunkt ist es auch heute noch beliebt: ein Gebäude in den sachlich-filigranen Formen der 50er Jahre mit roter Ziegelfassade, verglaster Gartenfront, Loggia und großem Walmdach, das sich unaufdringlich in den Kreis der älteren und jüngeren Universitätsbauten rund um die Wilhelmstraße einfügt.
Auch die Baumgarten-Mensa, vom Landesamt für Denkmalpflege als einer der »wenigen herausragenden Bauten der kompromisslosen Nachkriegsmoderne in Tübingen« eingestuft, passt sich trotz ihres großen Volumens dem Maßstab ihrer Umgebung an. Mit ihren hellen, lichtdurchfluteten Räu-men und raumhohen Verglasungen spiegelt sie »eine Offenheit und Großzügigkeit, die in den 60er Jahren als befreiend für die junge deutsche Demokratie angesehen wurde«. Im Gegensatz zum unübersehbar sanierungsbedürftigen Clubhaus ist sie in gutem Zustand – und doch erklärt die Behörde ihre Erhaltung für unwirtschaftlich, weil der Bau im Küchenbereich funktionale Mängel aufweise und zudem eine Energieschleuder sei.
Doch Interventionen nach Feldherrenart lässt sich eine selbstbewusster gewordene Einwohnerschaft heute nicht mehr widerstandslos gefallen, schon gar nicht im aufmüpfigen Tübingen. Inzwischen setzt sich eine Bürgerinitiative gegen Bauamt und Universität zur Wehr, die energisch ein Mitspracherecht der Öffentlichkeit verlangt und auch schon mit eigenen Kostenberechnungen, Energie- und Modernisierungskonzepten dargelegt hat, dass sich die Sanierung lohne. Erreicht hat sie, dass die Neuordnungsstrategen von ihren Abrissplänen abgerückt sind oder zumindest nicht mehr partout darauf beharren. (Die Tage des Clubhauses sind dagegen wohl gezählt.) Dennoch soll im Sommer ein Wettbewerb für einen Mensa-Neubau an benachbarter Stelle ausgeschrieben werden. Was dann mit der alten geschieht, weiß bisher keiner so recht, schon weil es der Stadt an schlüssigen Ideen und – mehr noch – an Mitteln für eine Umnutzung fehlt. Leerstand sichert dem Bau aber keine Zukunft.
Erreicht wurde jedoch durch die Auseinandersetzung vor allem, dass in der Öffentlichkeit die Toleranz und das Bewusstsein für den Wert und die Ästhetik der vielgeschmähten Nachkriegsmoderne und die bedeutenderen unter ihren Zeugnissen zu wachsen beginnen. Ein Bewusstsein dafür , dass die Architektur der Epoche genauso identitätsstiftend wirken und genauso revitalisiert werden kann wie die jeder anderen Zeit, sofern Bauherren, Architekten, Denkmalpfleger und Nutzer an einem Strang ziehen. Und dass einem Weiterbauen Vorrang zu geben ist vor der Zerstörung, wenn ein prägender Abschnitt der deutschen Geschichte nicht einfach von der Bildfläche und aus den Köpfen verschwinden soll.
Stadtentwicklung, das zeigt nicht nur der Fall Tübingen, hat es neuerdings schwerer, an der Bürgerschaft vorbei verordnet zu werden. Sie wird sich künftig zunehmend deren demokratische Einmischung gefallen lassen müssen.
Die Autorin ist Redakteurin für Kunst und Architektur bei der Stuttgarter Zeitung.
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