1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » Diskurs »

Stehaufmännchen

Diskurs
Stehaufmännchen

Die mehrfach gebeutelte niederländische Grenzstadt Enschede wurde zuletzt im Jahr 2000 durch die Explosion einer Feuerwerksfabrik erschüttert. Beim Wiederaufbau des dabei stark zerstörten Quartiers Roombeek bilden Kunst, Kultur und anspruchsvolle Architektur die Zugpferde für die Wiederaneignung des Stadtteils als lebendigen Wohnort.

~Hubertus Adam

Das Unglück ereilte das in der niederländischen Region Twente, direkt an der Grenze zu Deutschland gelegene Enschede gleich mehrfach: 1862 zerstörte ein Großbrand das historische Zentrum der Stadt, welche mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zu einem Zentrum der niederländischen Textilproduktion avanciert war – 75 Textilfabriken waren hier ansässig. Im Zweiten Weltkrieg bombardierten alliierte Flieger die Stadt, die sie irrtümlich dem Territorium des Deutschen Reiches zugerechnet hatten.
Die jüngste Katastrophe ereignete sich am 13. Mai 2000: Die Explosion in der Feuerwerkfabrik S.E. Fireworks forderte 23 Tote und knapp 1000 Verletzte; 600 Wohnungen waren zerstört, ein ganzes Stadtquartier lag in Trümmern.
Kurz nach der verheerenden Zerstörung wurde mit dem Wiederaufbau begonnen. 62,4 Hektar – zwei Drittel von der Explosion betroffen – umfasst das Entwicklungsgebiet im nördlich des Hauptbahnhofs und somit auf der innenstadtabgewandten Seite gelegenen Stadtteils Roombeek. Eigentlich lag für das Gebiet schon ein von Riek Bakker ausgearbeiteter Masterplan vor, ganz im Sinne des staatlichen Raumordnungsprogramms »Vinex«, das in den Niederlanden einen für die neunziger Jahre typischen Wohnungsbau hervorbrachte. Mit der Katastrophe indes hatten sich die Rahmenbedingungen geändert: Einen attraktiven neuen Stadtteil zu schaffen, das bedeutete auch, die ursprünglichen Bewohner zurückzugewinnen – und vor allem, mehr anzubieten als ein monofunktionales Schlafquartier. Man wollte die Folgen der Katastrophe beseitigen, letztlich aber auch ein neues Image für die weit entfernt von der prosperierenden »Randstad« gelegene Stadt schaffen. Mit dem Niedergang der Textilindustrie waren die alten Fabrikationsstätten mehr und mehr zur Last geworden. Die Sichtweise auf den Bestand änderte sich allerdings nach der Katastrophe: Die Bewahrung der historischen Relikte ist neben der Funktionsmischung und der Implementierung öffentlicher Räume eines der zentralen Ziele des Masterplans von Pi de Bruijn (de Architecten Cie., Amsterdam). De Bruijn besitzt Erfahrung mit derlei Prozessen und stammt, wie man in Enschede gerne betont, selbst aus der Region Twente. Möglich wurde der »Kwaliteitsimpuls«, der Roombeek von den üblichen Neubaugebieten im Land unterscheidet, durch zusätzliche Mittel in Höhe von seinerzeit siebzig Millionen Gulden, welche die Regierung und die Provinz Overijssel bewilligten.
Während auch die niederländische Wohnungswirtschaft mehr und mehr dem freien Spiel der Kräfte überlassen bleibt, lief in Enschede einiges anders. Bemerkenswert war die forcierte Beteiligung der Bürger – nicht zuletzt, um die einstigen Bewohner zur Rückkehr zu bewegen. So wurde das Konzept für den Wiederaufbau im Juni 2001 der Bevölkerung vorgestellt, dann zu einem Entwicklungsplan ausgearbeitet und schließlich zur Basis des Flächennutzungsplans von 2004. Ein Projektbüro wurde installiert, das den Kontakt zu den verschiedenen Nutzergruppen herstellte und versuchte, deren Interessen zu kanalisieren. Dazu dienten Meetings, Informationsbroschüren und Internetplattformen; möglichst viele Ideen sollten gesammelt und integriert werden. Insbesondere wollte man vermeiden, dass lediglich der typische, an aktiver Partizipation beteiligte Bürger (männlich, um die fünfzig, niederländischer Herkunft und mit einem überdurchschnittlichen Einkommen) seine Ideen einbringen konnte. Den Prozess begleitende Untersuchungen deuten daraufhin, dass dies in Enschede leidlich gelungen ist.
1350 Wohnungen sind neu entstanden oder im Entstehen begriffen, ein Drittel davon (ein für das Land hoher Prozentsatz) als Mietwohnungen. Von den 900 Eigenheimen werden die Hälfte von Selbstbauern realisiert. Das ist für die Niederlande noch ungewöhnlicher, wo gemeinhin Bauträger Siedlungskomplexe erstellen und die einzelnen Häuser dann an die Eigentümer verkaufen. In Roombeek wollte man den Versuch unternehmen, Käufer und Architekten direkt zusammenzuspannen, wobei – finanziert durch den »Kwaliteitsimpuls« – von staatlicher Seite aus Beratung angeboten wurde.
Insgesamt umfasst Roombeek zehn Teilgebiete mit unterschiedlichen Bebauungsstrukturen. Die Nord-Süd-Achse, ausgebaut für einen Hochleistungs-Busverkehr, bildet das Rückgrat des gesamten Areals. Um eine gewisse Einheitlichkeit zu erzielen, wurden innerhalb des Gesamtquartiers Bereiche mit unterschiedlicher »Bildregie« ausgewiesen. Niedrige Bildregie bedeutete relative Freiheit für die Eigentümer, bei hoher Bildregie hingegen waren diese an diverse Festlegungen gebunden. Hohe Bildregie galt für die beiden Hauptachsen, die sich in X-Form in der Mitte schneiden. Entlang dem west-östlich verlaufenden Roomweg war eine kompakte urbane Bebauung gewünscht, während die Ostseite der Lonnekerspoorlaan gegenüber dem Park, in dem auch ein Denkmal für den 13.5.2000 entstanden ist, von maximal viergeschossigen Reihenhäusern auf schmalen Parzellen gesäumt wird. An der als wesentliche Erschließungsachse für Fußgänger und Radfahrer fungierenden, in Form einer Promenade ausgebauten Museumslaan lautete schließlich die Verpflichtung, prominente Architekten mit dem Bau von freistehenden Einfamilienhäusern auszuwählen. Dazu zählen Benthem Crouwel, Erick van Egeraat sowie Bolles+Wilson – ein wenig wirkt Roombeek wie eine Bauausstellung. Doch dadurch, dass entlang der Achsen zumeist geschlossene Bebauungsfronten realisiert wurden, konnten individualistische Exzesse vermieden werden. Insgesamt überzeugt Roombeek durch eine klare Definition öffentlicher Räume, priorisierter Achsen und eine aufgelockerte Bebauung im Inneren der Einzelquartiere.
Das Rijksmuseum Twenthe, das sein Entstehen und seine reichhaltigen Sammlungen der Textilfabrikantenfamilie van Heek verdankt, stellt gewissermaßen den Ausgangspunkt der Stadterweiterung dar. 1930 wurde der mehrfach erweiterte Ursprungsbau eröffnet; die letzte Ergänzung realisierte Ben van Berkel gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekten Lodewijk Balion zwischen 1994 und 1996. Von hier aus führt die Museumslaan direkt in das Zentrum von Roombeek. Als eine der Landmarken des Quartiers fungiert hier der »Zorgcluster« der Amsterdamer Architekten Claus en Kaan, ein mit umlaufenden Balkonen versehenes und entfernt an Gestaltungsprinzipien von Erich Mendelsohn erinnerndes Hochhaus, das im Erdgeschoss Arztpraxen sowie Gesundheitseinrichtungen und in den Ebenen darüber Wohnungen birgt. Südlich benachbart liegt das 1907 errichtete Gebäude der Kattunspinnerei »De Bamshoeve«, das heute kulturell genutzt wird; nördlich schließt sich das von Peter Hübner entworfene Gemeinschaftszentrum an, das eine Schule, einen Kindergarten, Versammlungsräume sowie Geschäfte und Wohnungen umfasst. Den eigentlichen Angelpunkt des neuen Quartiers aber bildet der »Cultuurcluster« des Rozendaal-Komplexes auf der Ostseite des wieder freigelegten Bachs Roombeek.
Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet, bezog die Textilfabrik I.I.Rozendaal 1907 ihren neuen Produktionsstandort im Stadtviertel Roombeek. 1995 schloss sie als eine der letzten ihrer Art in Enschede die Pforten; von der Explosionskatastrophe wurden die Baulichkeiten vergleichsweise wenig betroffen. Der Wiederaufbau des Quartiers eröffnete allerdings die Möglichkeit, die ausgedehnten Hallen umzunutzen. »Twentse Welle« heißt das Museum, das seit der Eröffnung Ende April Enschedes neue Attraktion ›
› darstellt. Dabei handelt es sich um den Zusammenschluss dreier bisher über die Stadt verstreuter Institutionen: Naturkundemuseum, auf die Textilgeschichte konzentriertes Museum Jannink und Van Deinse Instituut mit heimatkundlichen Sammlungen. Bjarne Mastenbroek, Leiter des in Amsterdam ansässigen Architekturbüros SeARCH, hat die Hallen auf der Ostseite des Areals erhalten, während die keilartige Formation der Gebäude im Westen bis auf die äußere Umfassungsmauer abgerissen wurde. An ihrer Stelle sind eine Reihe neuer, skulptural geprägter Bauten entstanden, darunter einige expressive Apartmenthäuser und ein bandförmiges, mit Backstein verkleidetes Gebilde mit Ateliers, in dessen Erdgeschoss sich die aufgrund ihrer schlangenförmigen Gestalt problematischen Sonderausstellungsräume der »Twentse Welle« befinden. Die vertikale Dominante des Gesamtkomplexes bildet ein mit Metallnetzen umhüllter Turm für die Verwaltung, der zugleich den Haupteingang des Museums markiert. Die Besucher gelangen zunächst in eine mit sichelförmigen Elementen überdachte Foyerhalle und von dort unterirdisch in die große Halle des Museums. Das Amsterdamer Team Opera, für die Ausstellungsgestaltung verantwortlich, hat über die gesamte Länge von mehr als 110 Metern eine sechs Meter hohe gläserne Regalvitrine installiert, in welcher die Sammlungen gleichsam wie in einem Schaudepot ausgestellt sind. Von der urzeitlichen Tierwelt spannt sich der Bogen über die Wohnkultur des Mittelalters und die Industriegeschichte der Region bis hin zur Gegenwart. Regionalgeschichtliche Sammlungen in einer neuen, frischen Form zu präsentieren, war das Ziel; schade nur, dass die großen Textilmaschinen verschämt in einer Ecke präsentiert werden. In einem benachbarten Altbau, der ebenfalls von SeARCH umgebaut wurde, hat die lokale Kulturinstitution Concordia unter dem Titel 21Rozendaal neue Flächen für die Präsentation zeitgenössischer Kunst bezogen. •
Der Autor ist seit 1998 Redakteur der archithese und als freier Architekturkritiker vor allem für die NZZ tätig.
Websites in niederländischer Sprache: www.roombeek.nl www.roombeek.nl – unter »Publicaties«: pdf-Dokument mit Kurzdarstellung sämtlicher relevanter Bauten in Roombeek
Aktuelles Heft
MeistgelesenNeueste Artikel

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de