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Sommerbrief aus Tirana

Diskurs
Sommerbrief aus Tirana

Zu den undurchdringlichsten Mysterien des an Mysterien nicht gerade armen Albanien gehört die Frage, wie der einstmals ausschließlich öffentliche Grundbesitz seit Ende der kommunistischen Herrschaft 1990 in Privathände gelangt ist. 80 % von Grund und Boden gehören etwa in Tirana Privatleuten – nicht nur in den informellen Siedlungen, die der albanischen Hauptstadt in den vergangenen 30 Jahren eine Verdoppelung der Einwohnerzahl bescherten, sondern auch in den einst abgeschlossenen Quartieren für die Parteifunktionäre im Stadtzentrum, die nun von Hochhäusern gesäumt sind. Umso offener tritt die Vorliebe der Einheimischen für Automobile zutage, waren doch bis 1990 die etwa 5 000 verfügbaren PS-Chaisen ausschließlich der höchsten Nomenklatura vorbehalten. Besonders der »gute Stern auf allen Straßen« schwäbischer Provenienz ist angesagt, dessen Konzentration pro männlichem Tiraner wahrscheinlich sogar die in Untertürkheim übersteigt. Besonders schön cruisen lässt es sich auf dem zentralen, in den 20er Jahren von italienischen, d. h. faschistischen Planern angelegten Prachtboulevard, der den Kommunisten als Aufmarsch-Allee diente. Er scheint freilich auch mit dem jetzigen »demokratischen System« kompatibel, das man ungern »lupenrein« nennen möchte.

Den Skanderbeg-Platz dagegen, den schon. Diese insgesamt knapp 100 000 m² umfassende Fläche ist die Mitte Tiranas. Bis 2016, 2017 war der nach dem Nationalhelden Fürst Skanderbeg benannte und mit dessen Reiterdenkmal bestückte Platz ein als Kreisverkehr titulierter, undurchdringlicher Haufen »Heilig’s Blechle«. Bis die Belgier kamen. Das Brüsseler Büro 51N4E konnte mithilfe des einheimischen, international renommierten Künstlers Anri Sala endlich seine Pläne aus einem schon 2008 gewonnen Wettbewerb umsetzen und verwandelte die gesamte Fläche in eine Fußgängerzone. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, würde sich diese nicht von anderen in westlichen (und inzwischen auch östlichen) Ländern deutlich und im positiven Sinn unterscheiden. Während üppige, mit schattenspendenden Folies durchsetzte Gärten in den Randlagen einen Filter gegen Verkehrs-Abgase und -Lärm bilden, legten die Architekten in der immer noch 40 000 m² großen Mitte eine extrem flache Pyramide an. Gerade mal 1,75 m hoch, befindet sich der Passant an ihrer Spitze auf Augenhöhe mit umliegenden, durch die Perspektive geschrumpften Monumentalbauten des einstigen Regimes. Der Bodenbelag besteht aus 130 000 Natursteinplatten im Format 40 x 45 cm, die aus diversen, über Albanien verstreuten Steinbrüchen stammen. So repräsentiert dieses bunte, durch rund 140 Brunnen und Fontänen benetzte, Tag und Nacht belebte und unterschiedlich genutzte Mosaik das ganze Land. 2018 gewann der Platz den European Prize for Urban Public Space.

Eine Nummer kleiner, aber in der Aktivierung von öffentlichem Raum fast ebenso gut: der »Neue Basar« östlich des Skanderbeg-Platzes, nur wenige Minuten zu gehen. Bis 2017 war er ein trauriges Funktionsgebäude mit großem, stets überfülltem Parkplatz. Dann kam das heimische Architekturbüro Atelier 4, verbannte mit ebenso viel Chuzpe wie Geschick die Autos, tauschte Mauern durch Glaswände, baute mit fünf blau gefärbten Glasdächern eine weitere offene Markthalle, verwandelte einen Müll- in einen Miniplatz und bemalte zwei umliegende Gebäude mit kräftig bunten Teppichmustern. Schon Ministerpräsident Edy Rama, selbst Künstler von Weltruf, hatte zu seiner Zeit als Bürgermeister Tiranas mithilfe von Liam Gillick, Ólafur Elíasson, Tomma Abts und anderen Weltstars der Kunst die grau-tristen Plattenbaufassaden der Hauptstadt in ein schreiendes Farbenmeer verwandelt. Zwar war die Strom- und Wasserversorgung ein Desaster, zwar fehlte es auch sonst am Nötigsten, aber die Einheimischen wurden angeregt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen – einen Laden zu eröffnen, ein Gebäude mit eigenen Mitteln auszubessern, sogar Steuern zu zahlen. So mag zwar manch deutscher Architekt ob der Ausführungsqualität der besagten, auf feisten Stahlstützen ruhenden Glasdächer die berufsständisch ziselierte Nase rümpfen, doch der Erfolg der Intervention gibt den Architekten recht: Mehr als 300 neue Marktstände und mehr als 1 000 neue Arbeitsplätze sind entstanden, bereits im ersten Jahr wurden mehrere Mio. Euro Umsatz erzielt. Und: Umliegende Cafés und Restaurants sind voll, zahlreiche Open-Air-Kinos und -Konzerte finden statt, das ganze Viertel ist zu allen Tag- und Nachtzeiten belebt. Dass sowohl 51N4E als auch Atelier 4 ihre Projekte in vielfachem Dialog mit Bürgern, Anrainern und anderen Interessenten realisierten, zeigt, dass die Diskussion um den öffentlichen Raum auch von bisher randständigen Ländern neue Impulse erfahren kann.

~Enrico Santifaller

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