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Schafs- und bombensicher

Diskurs
Schafs- und bombensicher

Am Abend des 26. April 2008 kollidierte bei der Einfahrt in den Landrücken- tunnel südlich von Fulda

ein ICE mit einer Schafherde und entgleiste. Von den 170 Fahrgästen wurden 19 verletzt – 15 leicht, 4 mittelschwer. Die Unfallfolgen hielten sich in Anbetracht der Geschwindigkeit von über 200 km/h also in akzeptablen Grenzen. Dennoch kam es in den Medien sogleich zu einer bemerkenswerten Reaktion: Alle Hochgeschwindigkeitsstrecken müssten eingezäunt werden, und es wurde sogar eine Überwachung aller Bahntunnel mit Videokameras erörtert.

Der geneigte Leser mag sich fragen, was das mit Architektur und Stadtplanung zu tun hat. Leider mehr als einem recht sein kann; denn das Beispiel zeigt, dass unabhängig davon, wie sicher das Leben in unserer Gesellschaft tatsächlich ist, auf ein Unglück fast zwangsläufig eine übertriebene Reaktion folgt und sofortige Konsequenzen gefordert werden. Die Antwort auf die Frage, warum sich der sogenannte moderne Mensch derart verhält, können wir gern Soziologen, Philosophen und Psychologen überlassen.
Für unsereins ist von Bedeutung, dass man schon mehr als nur erahnen kann, wozu es in Architektur und Stadtplanung käme, wenn es zu einem terroristischen Anschlag in Deutschland kommen sollte, nämlich zu erhöhten Anforderungen an die Sicherheit der Gebäude und damit auch zu einer Ausgrenzung der Öffentlichkeit. Das zeigen Beispiele aus den USA und Großbritannien.
Von Anschlägen besonders betroffen waren die USA (unter anderem Regierungsgebäude in Oklahoma 1995, Botschaften in Daressalam und Nairobi 1998 sowie das World Trade Center 2001), weshalb nun neue Verwaltungsgebäude und Botschaften besonders geschützt werden. Am Beispiel des Freedom Towers kann man sehen, welche Folgen die gestiegenen Sicherheitsanforderungen auch für private Gebäude haben; denn aus dem schicken Masterplan-Entwurf von Daniel Libeskind wurde mit Hilfe von David Childs – zunächst unter Hinweis auf zu wenig kommerziell nutzbare Fläche – weniger als ein Allerwelts-Hochhaus, das nun auch noch schwersten Explosionen standhalten soll und deshalb einen rund sechzig Meter (!) hohen Betonsockel mit spezieller, explosionssicherer Stahl-Titan-Mischung erhält.
Doch auch in dem uns räumlich und mental näher liegenden Großbritannien gibt man sich nicht mit polizeilichen Maßnahmen zur Abwendung terroristischer Gefahren zufrieden, sondern das Home Office will wichtige öffentliche beziehungsweise öffentlich zugängliche Gebäude (wie Einkaufszentren) und damit die sie besuchenden Menschen besser schützen. So sollen die Bauten zum Beispiel mindestens fünfzig Meter von öffentlichen Straßen entfernt liegen und Barrieren aus Stahl und Beton Anschläge mit Lkw-Bomben verhindern. Die Fenster sollen wegen der Splittergefahr und wegen des Gewichts herunterstürzender Glasteile nicht größer als drei Quadratmeter sein. Und für die Besucher sollen in den Gebäuden auch noch besonders geschützte Sicherheitsräume errichtet werden, damit sie bei einem Anschlag nicht fliehen müssen. Geradezu bizarr klingt vor dem Hintergrund der in unseren Industriegesellschaften herrschenden Auto-Manie der Vorschlag, nahe bei beziehungsweise in diesen Gebäuden möglichst keine Parkplätze zu errichten. Und um die Schuldfrage für den Fall, dass die Gesellschaft mit den neuen Bauten unzufrieden sein sollte, schon mal zu klären, fordert das Home Office die Architekten auf, Gebäude zu entwerfen, die sicher sind, aber die Menschen nicht davon abhalten, die schönen neuen Orte zu besuchen und sich dort zu vergnügen. [1]
Sie meinen, all das hat mit der Realität in Deutschland nichts zu tun? Sorry, aber Sie irren. Kommen Sie nach Berlin und schauen Sie sich die Amerikanische Botschaft an. Über die Fassade am Pariser Platz mag man noch streiten, doch schon hier am Platz stören die mächtigen Poller, die das Vorfahren von Autos beschränken und Nachbargrundstücke mal soeben mit einbeziehen. Die Westseite (zum Tiergarten hin) ist besonders in der Dunkelheit abweisend; denn den dortigen Vorgarten schützt nicht nur ein Hochsicherheitszaun, sondern auch eine Beleuchtung, wie sie bei Gefängnissen üblich ist. Als ob der öffentliche Raum damit nicht schon genug geschädigt wäre, präsentiert sich der Bau von Süden her, wo er hinter dem Mahnmals für die ermordeten Juden Europas auch aus großer Entfernung zu sehen ist, mit einem monströsen Tor und sogar einem fensterlosen vierten Geschoss. Das Land, das einst jedem Einwanderer die Freiheit versprach, zeigt heute ängstlich die kalte Schulter!
Und wenn wir nicht aufpassen, wird sich Deutschland bald ebenso verbarrikadieren. Jeder kennt die meist hoch erregt vorgetragenen Sorgen um unsere Sicherheit und die Dringlichkeit der Verschärfung aller möglichen Gesetze und Verordnungen. Doch es gilt, richtig abzuwägen. Man muss nicht jeden Kilometer Eisenbahnstrecke durch einen Zaun sichern, weil es einen mittelschweren Unfall gab. Und wir dürfen nicht die Werte unserer freiheitlichen Gesellschaft dem Sicherheitswahn opfern (und damit im Grunde den Terroristen in die Hände spielen), sondern haben weiter auf der »Demokratie als Bauherr« zu bestehen: Öffentliche Gebäude müssen von außen einsehbar, im Innern durchschaubar und vor allem für den Bürger frei zugänglich sein.
~Jürgen Thesing
Der Autor ist freischaffender Stadtplaner in Berlin.
[1] »We are asking architects to come up with designs that make these places safe, but won’t repel [people] from wanting to come out and enjoy themselves.« Aus: Home Office urges architects to design terror-proof buildings, The Guardian, 22. 3. 2008
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