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Mut zu Mehrwert

Gestaltqualität abseits der Ballungszentren
Mut zu Mehrwert

Der ländliche Raum ist hierzulande längst nicht mehr ländlich. Auch abseits der Ballungsräume wurde in den letzten Jahrzehnten investiert, was das Zeug hält: Autobahnen, Umgehungsstraßen, Gewerbe- und Wohngebiete entstanden, ohne dass Gestaltung eine große Rolle spielte. Dabei könnten gerade einzelne Funktionsbauten im banalen Einerlei der Standorte Identität stiften. Ein junges Züricher Architekturbüro provoziert nun mit Vorschlägen für eine Kleinstadt in Süddeutschland.

~Christoph Gunßer

»Haben jemals so viele Neubauten auf so wenigen konzeptionellen Ideen basiert?«, fragte sich Florian Berner, an der Uni Stuttgart ausgebildeter Architekt mit Berufserfahrung in Köln, Dublin und nun selbstständig in Zürich, als er wieder einmal durch die heimischen Dörfer reiste.
»Architektur ist mehr als ökonomisch umbauter Raum, der aktuell normierten Ansprüchen an nachhaltiges Bauen gerecht wird,« betont Berner, denn »Architektur war und ist eines der wichtigsten Werkzeuge, um Räume zu gestalten, die der Umgebung Charakter und Identität geben.«
Als Vision wider die Ideen-Armut entwickelte der junge Architekt, aufgewachsen in der 6 000-Einwohner-Gemeinde Neuenstein, alternative Gestaltungsvorschläge zu dort bereits realisierten oder auch leer stehenden Bauten. Was zunächst wie eine spontane Projektion der internationalen Architekturszene auf eine ländliche Bebauungsstruktur aussieht, ist durchaus als ernsthafter Denkanstoß zu nehmen. Schließlich wird in dieser sehr verkehrsgünstig gelegenen Provinz an der A 6 Heilbronn-Nürnberg auch in Zukunft viel gebaut werden – durchdachte Konzepte und mehr Rücksichtnahme auf das Landschaftsbild darf man dabei durchaus einfordern. Da sollten die Vorschläge des jungen Büros nicht ungehört verhallen. Und auch andernorts könnte das Motto lauten: Lernen von Neuenstein!
»Spinnerei« für die Heimatstadt
Schon von fern sind der Burgfried und die Türmchen des alten Schlosses aus Sandstein zu erkennen. Die Hauptstraße macht einen Bogen um den Park dieses imposanten Bauwerks – und verschwindet dann in einem Loch im steilen Bahndamm.
Für dieses 2006 im Zuge einer überaus großzügigen Ortsumgehung realisierte enge Ende – oder den Auftakt – zum Stadterlebnis schlägt Berner eine luftigere Alternative vor: Die Bahnunterführung wird nach oben geöffnet, ähnlich dem temporären Zustand während der Bauphase. Im Luftraum, auf halber Höhe, führt ein Wanderweg durch die Öffnung, der einen gerahmten Blick auf die Stadt bietet. In einer Variante macht ornamentales Stahlfachwerk die seitlichen Druckkräfte des Bahndamms sichtbar. Die nach Südwesten orientierten Hänge werden mit den ortstypischen Weinreben bepflanzt.
Ein ehemaliger, jetzt leer stehender Getreidespeicher beim Bahnhof, neben Kirche, Schloss und Wasserturm das höchste Gebäude der Stadt, reizte den Gestalter zu einer Aufwertung: Den attraktivsten Bauplatz der Stadt will der Architekt zunächst durch eine Wohnung in vorgefertigter Holzrahmenbauweise parasitär erobern (als Vorbild nimmt er eine vor Jahren viel publizierte Realisierung in Rotterdam). Für später skizziert er eine dreigeschossige Überhöhung des Quaders in Form eines lichten Lofts. Hier wäre allerdings zu fragen, ob der höchste Punkt der Stadt nicht eher einer gemeinschaftlichen Nutzung zustände als der von privilegierten Privatpersonen. Ein »Hingucker« wäre der Turm in einer Region ohne Hochhäuser gewiss, aber wäre er auch in der Lage, zeichenhaft für die Stadt Neuenstein zu stehen?
Realitäten anerkennen
Auch das Landschaftsbild insgesamt wird immer wieder durch die fehlende Sensibilität von Planern und Politik empfindlich gestört. Unlängst wurde auf der im Blickfeld der Stadt sehr präsenten »Klippe« der Waldenburger Berge ohne Beteiligung der umliegenden Ortschaften ein klobiger neuer Sendemast des SWR errichtet. Diese Bauten legitimieren sich zwar durch ihre Funktion, werden in ihrer Gestaltung aber immer noch kaum hinterfragt. Dabei hätten solche mächtigen Zeichen wie jener Turm auf dem Waldenburger Friedrichsberg wahrhaft das Zeug, zum Aushängeschild der Gegend zu werden. Dafür zeigt Berner eine gewiss elegantere Alternative. Die Unterstützung der Betroffenen dürfte ihm in diesem Fall sicher sein. Doch kommt der Vorschlag leider zu spät …
Schließlich wagt sich der Exilant noch an das Allerheiligste, das mächtige, als Wohnhaus der Fürstenfamilie und Zentralarchiv genutzte Schloss Neuenstein. Zunächst schlägt der Architekt als bislang fehlende Attraktion für die Schlossbesucher ein Café vor, das als Leichtbau – und wieder vollständig demontierbar – an einem der Türme klebt. Da das Gebäude um 1900 bereits sehr grundlegend historisierend rekonstruiert, aufgestockt und dem Zeitgeschmack entsprechend »aufgehübscht« wurde, fühlt sich Berner weiterhin befugt, für eine mögliche anstehende Renovierung gleich das komplette Dach erheblich zu erhöhen. Hier müsste sicher diskutiert werden, ob diese Überhöhung angemessen und notwendig ist. Doch eine kontrastierende »Auffrischung« täte dem Schloss gewiss gut.
Es geht in Neuenstein sicher nicht um einen Abklatsch modischer Muster aus den Metropolen der Welt. Berner betont die Bedeutung eines starken lokalen Charakters neuer Bauwerke, die individuell auf den Ort und dessen Geschichte eingehen. Eine Neuinterpretation des Bewährten darf sich aber durchaus Elemente oder Methoden erfolgreicher Vorbilder leihen, wenn sie als passend empfunden werden. Die als Provokation gedachten Vorschläge könnten als Anstoß dienen, die eigenen Potenziale stärker zu entfalten, mutiger zu sein, wenn es um die eigene Selbstdarstellung geht. Mit seinen Bildern will Florian Berner die lokalen Kräfte für Architektur sensibilisieren, um auch hier, im ländlichen Raum, den Weg für eine höhere Gestaltqualität und vielleicht sogar für alternative Planungs- und Bauabläufe zu ebnen. Diesen mühsamen Selbstfindungsprozess kann der wohlmeinende Ideengeber seiner Stadt indes nicht abnehmen. Er hilft nur mit dem distanzierter gewordenen Blick auf das (allzu) Gewohnte. •
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