Das dichte Besuchergewusel in der 250. (!) Sommerausstellung der Royal Academy ist gleichermaßen faszinierend wie die nummerierte Namenlosigkeit der teilweise obskuren Objekte der Begierde, die dort gezeigt werden. Erst ein Blick in das begleitende Katalogbuch würde Kunstwerk und Künstler einander zuordnen. Doch wozu nachschlagen? Wie eine imaginäre Stadt fügen sich beispielsweise die Modelle der kleinen, feinen Architekturabteilung der Ausstellung zueinander. Die durcheinandergewürfelten Maßstäbe und Materialien der Modelle in der RA, die gerade erst ihre Erweiterung durch David Chipperfield eröffnet hat, lassen sich als ein flirrendes urbanes Pasticcio lesen, dem die gebaute Wirklichkeit kaum nachsteht. Manches erkennt man, anderes nicht, Namenlosigkeit neben Namedropping. So wie in der richtigen Stadt eben. Ein filigranes Holzmodell aus der Hand von Niall McLaughlin, dem irischen Feingeist, findet sich unweit einer ganzen Stadtvision von Peter Barber, der mit seinen charakteristischen Ziegelhäusern derzeit beherzt das Thema Sozialwohnungen neu denkt. Hier klingt jener baukulturelle Taktschlag durch, der an der Themse trotz manchem Investorengewürge dennoch deutlicher vernehmbar zu schallen scheint als an anderen europäischen Orten. Dabei ist London, etwa beim bezahlbaren Wohnen, alles andere als ein Paradies, Katastrophen wie die Tragödie um den Grenfell Tower – zu dem die polizeilichen Ermittlungen wohl bis zum kommenden Frühjahr andauern werden – eingeschlossen.
Andererseits gönnt sich die britische Hauptstadt seit Jahren mit dem sommerlichen Serpentine Pavilion in Kensington Gardens eine Architekturetüde der Sonderklasse. In diesem Jahr durfte ihn die Mexikanerin Frida Escobedo gestalten (bis 7. Oktober). Ihr geometrischer Pavillon mit durchscheinendem Gitter aus Zementdachziegeln kommt freilich deutlich düsterer daher als jener heitere Schirm, den ihr Vorgänger Francis Kéré im vergangenen Jahr dort aufspannte. Und als wäre der sommerliche Pavillon nicht Inspiration genug, den baukulturellen Geist spielerisch vergnügt zu weiten, stapelt Christo gleich nebenan auf dem Serpentine-See bunte Fässer zu einer 20 m hohen Mastaba (bis 23. September). Ihre Rot- und Blautöne spiegeln sich neben den unbeeindruckt im Wasser schwimmenden Schwänen, unablässig fotografiert von Kunstpilgern, während der strohtrockene Park unter dem Sommer ächzt. Ein Bild, nicht für alle Tage, sondern für besondere Momente, wie Berlin es mit dem verpackten Reichstag erleben durfte. Grüner, aber nicht weniger kunstsinnig präsentiert sich der besser gewässerte Regent’s Park, wo bis 8. Oktober die Kunsttausendsassas von Frieze zur öffentlichen Skulpturenschau einladen – ebenfalls umsonst und draußen.
Wer sich derweil durch die vermeintlich sozialen Medien klickt, dem fällt auf, um wie vieles intensiver der architektonische Diskurs im angelsächsischen Raum ausfällt. Das gilt sowohl in Sachen Brutalismus-Renaissance wie dem seit jüngstem aufflackernden Postmoderne-Revival. Und beides lässt sich in London bestens hinterlegen. Zum einen bei einem Besuch in der großartigen Hayward Gallery, Teil des leider noch immer nicht in seiner Gesamtheit denkmalgeschützten brutalistischen Southbank Centre. Erst zu Beginn des Jahres wurde der atemberaubende Sichtbetonbau (Higgs and Hill, Norman Engleback, Ron Herron, Warren Chalk, 1961-68) nach einer zurückhaltenden Renovierung durch Feilden, Clegg, Bradley wiedereröffnet. Einen Einstieg in die anstehende Wiederentdeckung der Postmoderne bietet derweil eine durch den Katalog bestens dokumentierte Ausstellung in Sir John Soane’s Museum, ab 1792 Wohnhaus des Architekten. Durch die Vielzahl der (wiederum zumeist unbeschrifteten) Sammlungsstücke Soanes verströmt das Museum eine geradezu stupende Gelehrsamkeit. Damit steht es beispielhaft für das tiefergehende weil traditionsreichere baukulturelle Bewusstsein auf der Insel.