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Im Wohnlabor

Diskurs
Im Wohnlabor

Das Abrisshaus als Kunstressource: Vier Wochen lang diente ein leer stehender Wohnkomplex in Bremen- Tenever als Schauplatz für ein ungewöhnliches Wohn- und Kooperationsexperiment. – Ein Besuchsbericht

~Kai-Uwe Scholz

Seit Anfang September läuft die deutschlandweite Netzwerkkampagne »Wie weiter wohnen?« der Bundesstiftung Baukultur. Pünktlich zum Beginn der Initiative wurde in Bremen ein Projekt beendet, das mit der Frage in ungewöhnlicher Weise Ernst gemacht hat.
Menschen, Tiere, Sensationen: In einer Etage gackerten Hahn und Hühner zwischen goldenen Wänden. In einer anderen tobten Zwergziegen vor einer Fototapete mit idyllischer Alpenlandschaft. In einer dritten drapierte die New Yorker Künstlerin Mary Ivy Martin Rollrasen über Erdaufschüttungen, um ihrem »Indoor Garden« eine natürliche Grundlage zu geben. Fast fühlte man sich an den Expo-Pavillon der Niederlande erinnert, einer der eindrucksvollsten Bauten der Weltausstellung in Hannover. Dort hatte das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV im Jahre 2000 sieben Landschaftstypen übereinandergeschichtet. Doch hier – in einem für den Abriss vorgesehenen Wohnkomplex in Bremen – war eine ungleich größere Vielfalt und Verdichtung von Kunst- und Lebenswelten zu bestaunen.
gezieltes Schrumpfen
Im Stadtteil Tenever – ganz im Osten des Stadtgebiets – betreibt die Bremer Wohnungsbaugesellschaft Gewoba den Rückbau West. In den siebziger Jahren war hier als Pendant zur so genannten Neuen Vahr ein weiteres Neubaugebiet mit insgesamt 2650 Wohnungen in bis zu 21 Geschossen umfassenden Hochhäusern entstanden. Einst als »Klein Manhattan« ausgerufen, war die Großwohnanlage später als »Monster-Siedlung« verschrien. Ihre großen Baukomplexe wurden und werden nun zum Teil saniert, zum Teil aber auch abgerissen und durch kleinere Wohnbauten ersetzt.
Schon vor Jahren hatte die Gewoba damit begonnen, bestimmte Blöcke zu entmieten und den Bewohnern entweder Abfindungen oder Ausweichquartiere im Stadtteil anzubieten – eine Möglichkeit, die rund siebzig Prozent der Betroffenen nutzte. Als sich abzeichnete, dass ein vier Aufgänge umfassender Wohnkomplex an der Neuwieder Straße längere Zeit ungenutzt leer stehen würde, ergriff eine Projektgruppe namens Team N., bestehend aus Christina Vogelsang, Annika Schmeding, Michael Ziehl und dem Autonomen Architektur Atelier (AAA) in Bremen, die Chance, ein halbes Hundert Akteure zu einem einmaligen Wohn- und Kooperationsexperiment einzuladen: Architekten und Autoren, Aktions- und Konzeptkünstler, Soziologen und Philosophen – sowie einige Praktiker, die sich in dem stillgelegten Komplex für die Versorgung mit warmem Wasser und heißem Kaffee zuständig fühlen würden. Für vier Wochen – vom 3. August bis zum 2. September wollte man hier weiter wohnen, während die Gewoba-Mieter bereits ausgezogen waren; am Ende sollte eine große Abschlussveranstaltung stehen. Der Aufruf stieß auf breite Resonanz: Außer aus Deutschland kamen Teilnehmer aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, Polen, den skandinavischen Ländern, der Schweiz – und selbst aus Neuseeland, Pakistan und den USA.
Dokumentarische Spielwiese
»In den siebziger Jahren wurde Tenever als eines der letzten Opfer der Charta von Athen nach dem Prinzip der Funktionstrennung gebaut«, sagt Daniel Schnier vom AAA. Die Leitlinie der klassischen Moderne hätte für den Städtebau die räumliche Trennung von Wohnen, Arbeiten, Lernen und Einkaufen vorgesehen. Schon damals sei allerdings bemängelt worden, dass die natürliche Urbanität der historisch gewachsenen Stadt in den Trabantensiedlungen verloren ginge und die Bewohner infolge der starren Strukturen vereinsamten.
Leitmotiv des Projektes in Tenever sei nun gewesen, das in der Makrostruktur angelegte Prinzip der Funktionstrennung kritisch aufzunehmen und in der Mikrostruktur aufzuheben.
Ein Komplex aus vier rechtwinklig aneinander grenzenden, durch separate Ein- und Aufgänge erschlossenen Baueinheiten stand zur Verfügung. »Zwei der Häuser (Neuwieder Straße 46 und 50) wurden als Wohnbereich angeboten, während für Arbeit und Freizeit das Werkhaus in Nr. 48 und eine Kommunikationszentrale in Nr. 52 genutzt werden konnten.« Leben und Arbeiten wurden so wieder zusammengeführt, in dem Komplex wurden Durchbrüche und bislang verbotene Verbindungen (zum Beispiel übers Dach) geschaffen, neue Kommunikationsorte und -formen gefunden. Sogar ein temporäres (freilich nur drei Zimmer umfassendes) Hotel wurde eingerichtet. ›
› Dabei ging es jedoch nicht darum, einer städtebaulichen Totgeburt quasi im Nachhinein neues Leben einzuhauchen. »Wir wollten auch ausprobieren, was aus der internen Kooperation einer solchen intentional community entstehen kann«, erläutert Christina Vogelsang. Bewusst wurde den temporären Bewohnern des Komplexes bei der Verwirklichung ihrer Ideen größtmögliche Freiheit eingeräumt. Jeder Teilnehmer hatte beim Einzug eine Einverständniserklärung zu unterschreiben, mit der er sich zur Gewaltfreiheit bekannte und bestimmte Hausregeln akzeptierte. Zumeist handelte es sich um Selbstverständlichkeiten: So sollte ab 22 Uhr Nachtruhe gelten, mussten Gäste prinzipiell allen Anwesenden vorgestellt werden, war die Weitergabe von Schlüsseln verboten. Doch ansonsten waren Absprachen fast nur bei Fragen der Statik vonnöten – ein idealer Freiraum für Wildwuchs aller Art. »Sproutbau« haben die Initiatoren das von der Gewoba und einer Reihe von Sponsoren unterstützte Projekt denn auch genannt. Der englische Begriff »sprout« für Keim oder Spross ist ein treffendes Bild.
Buchstäblich an die Wurzeln des Gebäudes gehen wollte gleich zu Beginn des Projekts die Göttinger Archäologin Sonja Funke mit einer Schaugrabung, die freilich eher symbolischen Wert hatte – zutage gefördert wurden nur von Hunden vergrabene Knochen, Bruchstücke alter Schallplatten und Bierflaschen der Bauarbeiter. Ebenfalls eine Art Spurensuche veranstaltete die Britin Trish Scott, die aus einer vermüllten Wohnung die Biografie des hier verstorbenen Bewohners rekonstruierte – beredtes Zeugnis für die menschliche Isolation, zu der es in anonymen, standardisierten Wohneinheiten immer wieder kommt. Die Bremer Konzeptkünstlerinnen Claudia Junker und Heike Nowotnik begaben sich hingegen unter die Lebenden und erbaten von ehemaligen Bewohnern Objekte, die diese mit der Geschichte des Hauses verbanden. Alte Briefkastenschlüssel und weitere funktionslos gewordene, doch sorgsam aufbewahrte Gebrauchsgegenstände dokumentieren, dass auch bei noch so anonymem Wohnen eine starke innere Verbundenheit mit den eigenen vier Wänden besteht.
Andere Künstler benutzten vorgefundenes Material, um daraus etwas gänzlich Neues zu kreieren: So konstruierte der Neuseeländer Donald Buglass, Absolvent der australischen National School of Art in Sidney, einen Figurenreigen aus Müll, den er demonstrativ »Dance of Life« betitelte. Zu den bunten Blüten des Sproutbau-Projekts zählen auch die bildhaften Wandgestaltungen, die Patricia Lambertus, Meisterschülerin von Karin Kneffel, aus Tapetenresten collagierte. Wiederum andere schufen von Gängen durchzogene Wohnhöhlen aus Pappmaterialien, wilde Dachaufbauten oder Installationen an den Fassaden. »Vieles entstand natürlich nur aus der Situation heraus, dass nichts auf Dauer angelegt sein muss und am Ende zusammen mit dem Gebäude entsorgt wird«, erläutert Christina Vogelsang. Zur »Betonale« genannten Abschlussveranstaltung vom 31. August bis zum 2. September, an der neben Hausspaziergängen auch Performances, Vorträge und Workshops angeboten wurden, kamen über zweieinhalbtausend Interessierte.
»So was hätten die von der Gewoba mal eher machen sollen«, meint Peter Halamoda, ein ehemaliger Mieter, der in den vier Projektwochen regelmäßig bei den Sprout-Aktivisten vorbeischaute. »Natürlich war das alles ein Experiment«, ergänzt Günther Dohms, früherer Küchendesigner und Bewohner der ersten Stunde, der bis zum letzten Tag in seinem Dachgeschossapartment wohnen blieb und die Sprout-Initiative mit Interesse und Aufgeschlossenheit begleitet hat: »In vieler Hinsicht hat das Projekt jedoch ein Miteinander wiedererstehen lassen, das ganz zu Anfang unter uns Bewohnern geherrscht hat. Soviel freundliche Aufmerksamkeit habe ich in den letzten dreißig Jahren selten erlebt.«
Auch nach Abriss des Gebäudes in Bremen-Tenever kann man sich von den Sprout-Leuten zur unkonventionellen Nutzung alt gewordener Neubauten anregen lassen: Anfang des Jahres soll eine Dokumentation des Projekts samt DVD erscheinen. Und wer wissen will, wie es in dem Wohnbau an der Neuwieder Straße ursprünglich einmal ausgesehen haben mag, braucht nur um die Ecke in die Pfälzer Straße zu gehen. Dort steht ein baugleiches Modell des Komplexes, entworfen Anfang der siebziger Jahre von Architekt Martin Zill.
Der Autor publiziert zu Architektur, Design, Kunst und Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Er lebt in Hamburg.
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