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Exzentrisches Experiment

phaeno – ein Sciene-Center in Wolfsburg
Exzentrisches Experiment

Nach viereinhalb Jahren Bauzeit wurde am 25. November 2005 Zaha Hadids »phaeno« in Wolfsburg eröffnet: mit 250 Experimentierstationen auf 9 000 Quadratmetern Fläche das größte deutsche Science-Center. Nach amerikanischem Vorbild sollen hier komplexe Sachverhalte aus Wissenschaft und Technik spielerisch und anschaulich vermittelt werden.

Phaeno ist eine Attraktion, die das dominante Kraftwerk des Volkswagenwerks und die Autostadt in den Schatten stellt; ein neues Wahrzeichen. Und ein Symbol für den Wandel von der Industrie- zur Erlebnisstadt. Doch anders als das Bremer »Universum« oder Renzo Pianos »Nemo« im Amsterdamer Hafen entspricht die architektonische Form hier erstmals dem innovativen Inhalt.
Der oft bemühte Vergleich mit einem ge-landeten Ufo greift zu kurz – auf die bunte Blase des Grazer Kunsthauses mag er eher zutreffen. Phaeno ist ein rätselhaftes Objekt, ein surreales Gebilde voller Gegensätze: gleichermaßen träger Koloss wie dynamische Gebärde, archaisch wie artifiziell, primitiv wie futuristisch. Ein scheues Wesen aus einer fremden Welt, von einem anderen Stern. Ein schwereloses Ungetüm, ein aus Stein gehauenes Raumschiff.
Der mächtige Monolith ist ein architektonisches Ausrufungszeichen. Nicht so aufdringlich wie die vordergründige Geste eines Gehry, doch nicht weniger dramatisch. Auch das phaeno ist ein Solitär, aber introvertiert, von seiner Innenwelt bestimmt. Radikal in der Form, kompromisslos in der Konstruktion, im Grenzbereich des gerade noch Machbaren: Nur möglich durch einen selbstverdichtenden Beton, der erstmals in diesem Umfang europaweit auf der Baustelle ein-gesetzt wurde. Erst seine verbesserten Fließeigenschaften erlaubten die komplizierten Schalungsformen von über sieben Meter Höhe und die Neigung der Wände bis zu vierzig Grad; kaum eine Wand im Haus ist lotrecht, rechtwinklig sind allein die Türen.
Das phaeno ist kein Gebäude im herkömmlichen Sinn, sondern eher eine organische Betonlandschaft aus einem Guss. Zehn unterschiedlich geneigte und verschieden große stumpfe Kegel stemmen eine Betonscholle über sieben Meter in die Höhe. Die Schauseite Richtung Innenstadt wird durch Öffnungen akzentuiert, deren Struktur sich auf Höhe der Porschestraße verdichtet. Mehrere Reihen rautenförmiger Fenster und länglicher Schlitze perforieren die Fassade, ihre abgerundeten Ecken erinnern an den Raumschifflook der sechziger Jahre.
Das künstlich modellierte Baugelände sorgt für einen fließenden Übergang, eine gegenseitige Durchdringung von Außen- und Innenraum. Zwischen den konischen Volumen unter der hochgedrückten Halle entsteht ein eigener Raum – das eigentliche Herz des Hauses. Aus der Analyse von Verkehrswegen und Sichtachsen wurde ein komplexes Geflecht von räumlichen Beziehungen entwickelt, die sich im Gebäude überlagern. Sie prägen die künstliche Topografie des Geländes und die Anordnung der konischen Volumen, gliedern die Fassade und die Experimentierhalle im Innern. Die zuvor kaum erkennbare zentrale Position des Bauplatzes im Schnittpunkt mehrerer Achsen wird nun nachvollziehbar. Das phaeno verbindet die heterogenen Stadtbereiche über die alte Trennlinie des Mittellandkanals hinweg und markiert die neue Stadtmitte – als Dreh- und Angelpunkt der Stadt, als Schlussstein zwischen VW-Werk, Autostadt und City. Der zuvor kaum definierte Platz wird nicht nur erhalten, sondern erst geschaffen, als solcher erlebbar, der Blick auf Kraftwerk und Autostadt nicht verstellt, lediglich gefiltert, sorgsam gesteuert und akzentuiert.
Bewusste Brüche durchziehen den gesamten Bau. So entspricht die Grundform des Gebäudes zwar einem Trapezoid, ist aber annähernd dreieckig. Und dieses »Beinahe«, diese leichte Irritation, der Knick in der Fassade macht erst den Reiz der Schauseite aus. Über dessen Kante führt ein langer Glaskeil, der die Fassade aufbricht, sich unter die Fensterreihen schiebt, sie hochdrückt, zur Seite kippt, in Richtung des parabelförmigen Restaurantfensters.
Durch die hohlen Betonkegel gelangt man nach oben. In eine offene Landschaft ohne Stützen, ein fließendes Raumkontinuum ohne Richtungen, ohne Hierarchie, ohne vorgegebene Wege. Eine amorphe Landschaft aus Wölbungen und Senken, Kratern und Höhlen. Verschiedene Ebenen gehen ineinander über, die Grenze zwischen Boden und Wänden ist aufgehoben. Nur das gigantische, freitragende Stahldach bildet eine eigene Zone, die dem organischen Eindruck entgegensteht. Es erzeugt einen harten Kontrast zu dem über 150 Meter langen, ungewöhnlich flachen Bau: Schon nach 16 Metern wird der Höhendrang des organisch wachsenden Gebildes durch den geraden Dachabschluss brachial gebremst.
Der Innenraum wirkt niedrig, provisorisch, wie notdürftig überdacht. Aber nur auf den ersten Blick. Denn die Struktur der Stahldecke ist genauso ausgefeilt wie die Betonvolumen, die sie tragen. Ja mehr noch: Erzeugt der diagonale Raster der Betonkassettendecke unter dem Bau gleichmäßige rautenförmige Zwischenräume, so ist der fächerartige Trägerrost des Stahldachs schiefwinklig verzerrt: jedes Teil ein Unikat, alle Kreuzungswinkel unterschiedlich. Das Spiel mit den Variationen des Trapezoids wird hier auf die Spitze getrieben. Wieder einmal ist Zaha Hadid tief in technisches Neuland vorgestoßen. Peter Struck
Der Autor ist Kulturwissenschaftler und publiziert vor allem zu baugeschichtlichen Themen.
Architektengemeinschaft Zaha Hadid, London und Mayer Bährle, Lörrach Arbeitsgemeinschaft Tragwerk Adams Kara Taylor, London und Tokarz Frerichs Leipold, Hannover
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