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Kattowitz: architektonisches Experimentierfeld der Moderne

Die geheime Hauptstadt der Ostmoderne
Kattowitz: architektonisches Experimentierfeld der Moderne

Die oberschlesische Industriemetropole Kattowitz (Katowice) war wiederholt ein architektonisches Experimentierfeld der Moderne. In der Zwischenkriegszeit sollten funktionalistische Bauten den Aufbruch des wiedererstandenen polnischen Staates in die Zukunft visualisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg trieb die sozialistische Volksrepublik spektakuläre Großprojekte voran, mit denen sie mit dem Westen wetteifern wollte. Wer das Kattowitzer Erbe der Moderne kennenlernen möchte, sollte sich schleunigst auf den Weg machen. Denn einem Großteil der Bauten drohen Abriss oder Verunstaltung.

~Arnold Bartetzky

Noch im 19. Jahrhundert war das damals preußische Kattowitz, wie die meisten heutigen Städte des oberschlesischen Industriegebiets, ein Dorf. Erst die rasante Entwicklung des Steinkohlebergbaus und der Hüttenindustrie sowie der Anschluss an das Eisenbahnnetz im Jahr 1846 setzten einen lang anhaltenden Wachstumsprozess in Gang. Bis zum ersten Weltkrieg entwickelte sich Kattowitz zu einer großen Mittelstadt.
Das nördlich der Eisenbahnlinie gelegene Stadtzentrum war von drei- bis viergeschossigen Bauten der Gründerzeit und der Jahrhundertwende geprägt, in der Nähe der verstreut liegenden Gruben – wie die Zechen in Oberschlesien genannt werden – entstanden schlichte Arbeitersiedlungen aus rotem Ziegelmauerwerk.
Nach dem Krieg gewann Kattowitz schlagartig an Bedeutung, wurde es doch infolge der Teilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und dem nach über einem Jahrhundert staatlicher Nichtexistenz wiedererstandenen Polen zur Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft (Verwaltungsbezirk) Schlesien. Die Einwohnerzahl überschritt rasch die Hunderttausendermarke. Die Bautätigkeit konzentrierte sich fortan vor allem auf die wenig entwickelten Gebiete südlich der Eisenbahn. Dort entstand auch das Verwaltungszentrum der Woiwodschaft, das als polnisches Gegenstück zum bisherigen preußisch-deutschen Stadtzentrum galt.
Als Repräsentationsstil des neuen Polen wurde zunächst ein etwas klobiger, reduktiver Neoklassizismus favorisiert, der an die Spätzeit der untergegangenen polnischen Adelsrepublik im ausgehenden 18. Jahrhundert anknüpfen und einen selbstbewussten Gegenakzent zu der als spezifisch deutsch aufgefassten lokalen Neogotik der Vorkriegszeit setzen sollte. Sein wichtigster Kattowitzer Vertreter ist der Bau des schlesischen Woiwodschaftsamts und Regionalparlaments (1924–29, Architekten: Kazimierz Wyczyński, Ludwik Wojtyczko, Stefan Żeleński, Piotr Jurkiewicz), eine von wuchtigen Risaliten eingefasste Vierflügelanlage, die nicht zufällig an eine Festung erinnert. Doch bereits seit den späten Zwanzigerjahren brach sich in Kattowitz der Funktionalismus Bahn, der als zukunftsweisender Stil des polnischen Fortschritts propagiert wurde. Die bis dahin obligaten klassischen Ordnungen wurden immer sparsamer und in zunehmend abstrakterer Form auf die Fassaden appliziert, um bald vollends glatt verputzten, weißen Wandflächen zu weichen. Von der Woiwodschaftsregierung kräftig gefördert, avancierte der Funktionalismus rasch zum Leitstil sowohl von öffentlichen Repräsentationsbauten als auch von Wohnhäusern, sogar an einigen Kirchen setzte sich der Wille zur kubischen Kargheit gegen die Traditionsliebe der Geistlichkeit durch.
Die polnischen Architekten des neuen Kattowitz ließen sich nicht mehr von Imaginationen altpolnischer Vergangenheit, sondern von Innovationen des Westens inspirieren. Ungeachtet des nationalen Antagonismus blickten sie auf das Neue Bauen der Weimarer Republik, das damals nicht zuletzt das Gesicht der gleich hinter der Grenze gelegenen Städte im deutschen Teil Oberschlesiens zu verändern begann. In Gleiwitz (heute Gliwice) etwa hatte Erich Mendelsohn bereits 1921/22 das avantgardistische Seidenhaus Weichmann errichtet. In Hindenburg (Zabrze) fand 1927 ein Wettbewerb für den radikalen Umbau des Stadtzentrums statt, an dem sich unter anderen Hans Poelzig und Max Berg beteiligten. Gleichzeitig suchte die Stadt Hindenburg durch den Bau funktionalistischer Arbeitersiedlungen die Wohnungsnot in den Griff zu bekommen, die durch den Zuzug deutscher Auswanderer aus den an Polen gefallenen Gebieten Oberschlesiens verschärft wurde.
Mehr noch schauten die Kattowitzer Architekten aber nach Amerika. Schlesien, verkündete enthusiastisch die polnische Zeitschrift »Architektura i Budownictwo« (Architektur und Bauwesen) im Jahr 1932, sei die amerikanischste Region Polens, die mit ihrem Höhendrang die übrigen Landesteile überflügelt habe. Schon das 1928 fertiggestellte Kattowitzer Kulturhaus (Architekten: Stanisław Tabeński, Józef Rybicki) hatte mit seinem durch in die Höhe strebende Lisenen und vertikale Fensterbahnen gegliederten Baukörper die Typologie das amerikanischen Hochhauses aufgegriffen, auch wenn es die Nachbarbebauung nur wenig überragte. Einige Jahre später leistete sich Kattowitz mit dem bis 1934 erbauten sogenannten »Wolkenkratzer« (Tadeusz Kozłowski) das damals höchste Gebäude Polens und eines der höchsten Europas. Der vierzehngeschossige, scharfkantige Stahlskelettbau wurde zur Ikone der Kattowitzer Moderne der Zwischenkriegszeit. Zu ihrem Abgesang sollte das Schlesische Museum werden. Seit 1934 errichtet, legte der von Karol Schayer entworfene Großbau eine dekorlose Strenge an den Tag, die mit der Tradition der Museumsinszenierung als Kunsttempel brach. Bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde er, noch bevor er eingeweiht werden konnte, von den Nazis als Symbol polnischer Kultur abgebrochen.
Nach dem Krieg, den die Stadt, im Vergleich etwa zum total zerstörten Warschau, relativ glimpflich überstand, wurde Kattowitz wieder polnisch – diesmal vollständig, denn der nach 1918 verbliebene deutsche Teil der Bevölkerung war geflohen oder vertrieben worden. Nunmehr zum Zentrum des gesamten oberschlesischen Kohlereviers aufgestiegen, erlebte die Stadt weitere Wachstumsschübe, die durch den Primat der Industrie in der sozialistischen Wirtschaftspolitik zusätzlichen Auftrieb bekamen.
Seit 1949 wurde den polnischen Architekten die Doktrin des Sozialistischen Realismus aufgezwungen, die dem im Westen als Internationaler Stil triumphierenden Funktionalismus eine »Baukunst nationaler Traditionen« nach sowjetischem Vorbild entgegensetzte. Es mag nicht zuletzt an der starken modernen Tradition des vorkriegszeitlichen Kattowitz liegen, dass der Stalinsche Historismus hier etwas dezenter auftrat als in anderen polnischen Großstädten. Dafür entwickelte sich Kattowitz nach dem architekturpolitischen Kurswechsel in der Mitte der fünfziger Jahre, bei dem der Sozialistische Realismus als Verirrung auf dem Heilsweg geächtet worden war, zu einer Hochburg der sozialistischen Spätmoderne. Zum Brennpunkt der Bautätigkeit wurde wieder das alte Stadtzentrum nördlich der Eisenbahn. Rund um den Marktplatz entstanden anstelle abgebrochener Gründerzeitbauten neue Kauf- und Bürohäuser, mit denen Anschluss an die internationale Entwicklung gesucht wurde. Zeigt etwa das Kaufhaus »Zenit« (1958–62, Jurand Jarecki, Mieczysław Król) noch eine monoton gerasterte Lochfassade, so kam im fast gleichzeitig errichteten, filigranen Stahl-Glas-Bau des später als Pressehaus genutzten Sporthauses (1963 fertiggestellt, Marian Śramkiewicz) erstmals in Schlesien eine Vorhangfassade zum Einsatz. Ein Jahrzehnt später setzte das Kaufhaus »Skarbek« (1975 fertiggestellt, Jurand Jarecki) einen ganz neuen Akzent an dem Platz: Mit seiner fensterlosen Wabenfassade in der Nachfolge Egon Eiermanns, die an die einstigen westdeutschen Horten-Kaufhäuser erinnert, galt es seinerzeit als Fanal des Forschritts sozialistischer Konsumkultur. Seit den sechziger Jahren wurde auch eine vom Marktplatz nach Norden verlaufende Magistrale angelegt. Mit ihren streckenweise mehr als hundert Metern Breite, weist sie keine klaren Raumkanten auf, sondern wird, dem Konzept ›
› fließender Stadtlandschaft folgend, zu beiden Seiten von locker angeordneten Hochhäusern mit vorgelagerten Pavillons gesäumt. Das Finale dieser in ihren Dimensionen etwas aus dem Ruder gelaufenen Repräsentationsmeile bilden zwei spektakuläre Bauten an einem vom Kreisverkehr umtosten Platz, der heute den Namen Rondo Ziętka trägt. Die »Superjednostka« (Supereinheit), ein auf Pilotis aufgeständerter fünfzehngeschossiger Wohnriegel für 3000 Menschen (1961–70, Mieczysław Król), rekurriert mit ihrem Namen wie mit ihrer Form auf Le Corbusiers Unité d’Habitation. Mit ihren fast zweihundert Metern Länge übertrifft sie aber deren bisherige Varianten bei Weitem. Schräg gegenüber schwebt über einem flachen Sockel, einem gigantischen Ufo gleich, die im Volksmund treffend »Spodek« (Untertasse) genannte Mehrzweckhalle (1965–71, Maciej Gintowt, Maciej Krasiński, Andrzej Żurawski, Wacław Zalewski u. a.), eine kühne Schalenkonstruktion, die zu den Spitzenleistungen polnischer Architektur und Ingenieurskunst gezählt wird.
Dem Spodek qualitativ ebenbürtig ist der Hauptbahnhof (1966–72, Wacław Kłyszewski, Jerzy Mokszyński, Eugeniusz Wierzbicki, Wacław Zalewski). Als Paradebeispiel des Betonbrutalismus apostrophiert, ist er tatsächlich ein Bau von äußerster Leichtigkeit und gestalterischer Raffinesse. Sechzehn in zwei Reihen aufgestellte, kelchartig geformte Sichtbetonständer bilden die Konstruktion und zugleich das durchlichtete Dach der luftigen, raumhoch verglasten Empfangshalle.
Während mit den markanten Solitären im Zentrum eine Leistungsschau sozialistischer Repräsentationsarchitektur entstand, breiteten sich am Stadtrand die berüchtigten Großsiedlungen aus. Doch sie bieten nicht nur die übliche Plattenbautristesse. In der Millennium-Siedlung etwa ragen fünf Hochhäuser auf polygonalem Grundriss heraus (seit 1961, Henryk Buszko, Aleksander Franta), die mit ihren umlaufenden, geschwungenen Balkons die Chicagoer Marina Towers zitieren.
Die zwei Jahrzehnte vor und nach dem Kollaps des Sozialismus bilden ein Kapitel der oberschlesischen Architekturgeschichte, über das man barmherzig den Mantel des Schweigens breiten sollte. Nach Jahren der Kakophonie, wie der Kattowitzer Architekturkritiker Tomasz Malkowski den Wildwuchs der Nachwendezeit treffend charakterisiert, dominiert heute wieder der Funktionalismus, freilich in seiner zeitgemäß geläuterten, milderen Variante. Die neuesten Bauten, etwa der zwischen backsteinerner Schwere und gläserner Leichtigkeit changierende Erweiterungsbau der Musikakademie (2005–07, Tomasz Konior), und die jüngsten Projekte, allen voran das künftige Schlesische Museum auf dem Gelände der früheren Grube »Katowice« (Wettbewerbssieger Riegler Riewe Architekten, Graz), zeigen eindrucksvoll, dass die baukulturelle Talsohle der Transformationsperiode nun überwunden ist. Dies ist umso wichtiger, als sich Kattowitz derzeit auf einen Bauboom einstellt. Großinvestoren reißen sich um Bauland in der oberschlesischen Metropole, die zwar nach dem Niedergang der klassischen Industrie nur noch gut 300 000 Einwohner hat, aber im Zentrum eines Ballungsraums von fast drei Millionen Menschen liegt.
Dem Erbe der Moderne drohen damit allerdings Entstellung und Zerstörung. Die Bauten der Zwischenkriegszeit werden oftmals unsachgemäß saniert: Dicke Wärmedämmschichten machen den subtilen Fassadengliederungen den Garaus. Der marode Hauptbahnhof ist akut von Abriss bedroht, weil ihn die Polnische Staatsbahn einem Einkaufszentrum opfern will. Von der städtebaulichen Anlage der Magistrale wird wohl nicht viel übrigbleiben, denn hier ist rigorose Verdichtung durch Neubauten vorgesehen. So fraglos sinnvoll es ist, den ebenso überdimensionierten wie öden Straßenraum zu verengen, so leidet doch dieses zentrale Stadtumbauprojekt zum Teil unter einer ähnlichen Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Bestand wie die modernistische Bebauung der Magistrale, die es doch gerade zu korrigieren gilt. Selbst die ikonische »Supereinheit« soll von einem Hochhaus verstellt und damit, wie die Kattowitzer Kunsthistorikerin Irma Kozina befürchtet, langfristig dem Wertverfall und Abriss preisgegeben werden.
Zusammen mit ihren Kollegen von der Kattowitzer Universität und anderen Gleichgesinnten fordert die Expertin für schlesische Architektur des 19. und 20. Jahrhundert einen sorgsameren Umgang mit dem modernen Erbe. Dabei kann sie auf Unterstützung der internationalen Fachwelt rechnen: Nach Bekanntwerden der Abrisspläne für den Hauptbahnhof etwa wurden in Windeseile mehrere Hundert Protestunterschriften aus verschiedenen Ländern gesammelt. In der lokalen Öffentlichkeit aber haben solche Initiativen einen schweren Stand. Von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Verwahrlosung geplagt, interessieren sich die heutigen Kattowitzer mehr für die Verlockungen der neuen Shopping Malls vor der Toren der Stadt als für die Pflege des urbanen Architekturerbes. Und sie haben wohl für nichts weniger Sinn als für den spröden Charme der Moderne. •
Der Autor arbeitet als Kunsthistoriker am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und ist als Architekturkritiker tätig.
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