Diskurs
Der imaginierte Orient
~Ulf Meyer
Mit dem Synagogen-Bauboom in Deutschland, der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, wurden die Silhouetten vieler deutscher Städte um die Konturen von großen, monumentalen Pracht-Synagogen bereichert. Die Frage, in welchem Stil eine deutsche Synagoge gebaut werden solle, stellte sich damals schon so dringend wie heute. Deutschland erlebt derzeit einen neuen Schub des Synagogenbaus, mit vielen ausgezeichneten Architekturen darunter, wie die Synagoge in Dresden von Wandel Hoefer Lorch [5] oder zuletzt Manuel Herz‘ Synagoge in Mainz (s. db 1/2011, S. 30).
Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch immer ungenutzte Synagogen in deutschen Städten gibt, die verfallen und abgerissen werden. Mit dem Holocaust sind nicht nur die Gemeinden ausgelöscht worden, sondern auch Zeitzeugen, Bauherren und Architekten, die Auskunft über die Architektur geben könnten. Deshalb bewegen sich Bauhistoriker, die sich mit der Bautradition jüdischer Tempel in Deutschland beschäftigen, auf unbestelltem Acker. Eine löbliche Ausnahme bildet die Bet Tfila, die Forschungsstelle für jüdische Architektur der TU Braunschweig, eine europaweit einmalige Institution. Auf ihrer zweiten, internationalen Konferenz gemeinsam mit der Hebrew University of Jerusalem gelang es, Experten aus 14 Ländern zu versammeln, um sich über den Stand der Forschung zum Thema auszutauschen: Von Details der Gestaltung von Bima und Aron ha-Qodesch (Tora-Schrein), Orgeln in Synagogen oder der Baugeschichte der Mikva’ot wurden viele Details beleuchtet. Die beiden Gretchen-Fragen – »Gibt es eine explizit jüdische Architektur überhaupt?« und »Was lehrt die Baugeschichte für die Zukunft der Gestaltung von Synagogen in Deutschland?« – vermied die Tagung leider. Jüdische Architektur war gleichbedeutend mit Synagogenbau.
Das Spannungsfeld, in dem sich Synagogen-Architektur in Europa heute wie vor 100 Jahren bewegt, illustriert kein Gebäude eindrücklicher als die Synagoge in Dresden von 1840 von Gottfried Semper [6]: Außen im neoromanischen kirchenartigen Stil gestaltet, entfaltete sie im Innern ein Feuerwerk »maurischer« Interieurs. Die Architektur beschritt unbekümmert einen Mittelweg zwischen örtlicher Baukunst und religiösem Sehnsuchts- und Referenz-Stil. Synagogen-Architektur in Deutschland pendelte schon vor 150 Jahren zwischen gestalterischer Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft und einer eigenen, »exotischen« architektonischen Identität. Für die vielen jüdischen Gemeindezentren, die in Deutschland in den nächsten Jahren noch gebaut werden, bot die Bet Tfila-Konferenz einen guten intellektuellen Rahmen der Betrachtung.
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