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Der Bürger stimmt ab

Diskurs
Der Bürger stimmt ab

In Berlin hat es im letzten halben Jahr zwei große Volksabstimmungen zu städtebaulichen Themen

gegeben, die auf lange Sicht das Gedeihen der wirtschaftlich seit 1990 so schwer gebeutelten Stadt prägen werden. Sie werfen aber auch Grundsatzfragen auf, vor allem die, warum Volksabstimmungen in Deutschland in sozial, kulturell, technisch wie wirtschaftlich und politisch komplexen Planungsprozessen so wenig sinnreich gewirkt haben.

Die eine Abstimmung behandelte die vom Senat beabsichtigte Schließung des Flughafens Tempelhof. Zwar ist die Schließung seit vergangenem Jahr juristisch kaum noch zu kippen, denn das Bundesverwaltungsgericht hat die Betriebsgenehmigung für den Großflughafen in Schönefeld mit der Schließung der vorhandenen Berliner Flughäfen verbunden. Dennoch ist das Volksbegehren nur knapp gescheitert, und zwar an der mangelnden Beteiligung der Bürger. Erfolg hatten die Flughafenbetriebsfreunde in den West-Berliner Stadtbezirken, in denen die Blockade 1948, die Versorgung durch die Luftbrücke und die darauf folgende Zeit das Erlebnis von Tempelhof prägten. Außerdem sind sie überwiegend nicht vom Fluglärm betroffen. In den von Erinnerungen freien Ost-Berliner Stadtbezirken blieben die Bürger hingegen schlichtweg zu Hause. Und in den Stadtvierteln West- und Ost-Berlins, die in den Einflugschneisen liegen, verloren die Flughafenbetriebsfreunde haushoch. Aber warum gab es jenseits sentimentaler Gründe überhaupt Freunde eines weiteren Flugbetriebs in Tempelhof? Seit gut 15 Jahren ist bekannt, dass Tempelhof schnellstmöglich den Betrieb einstellen soll. Doch der Berliner Senat hat alle Gelegenheiten verstreichen lassen, die sich diesem Riesengebäude und diesem Riesengelände mit bestem Verkehrsanschluss boten: So hätte uns zum Beispiel der peinlich-gigantische Neubau für den Bundesnachrichtendienst an der Chausseestraße erspart bleiben können, der einmal als Symbol eines volksfernen Schnüffelbürokratismus dienen wird. Die Staatlichen Museen und die Staatsbibliothek hätten hier ihre Zentraldepots unterbringen können, die nun in absurd abgelegener Stadtrandlage errichtet werden. Die größte Volksbibliothek Europas, die Berliner Zentralbibliothek, hätte hier ein neues Heim finden können. Das Technik-Museum, dem in den Neunzigern mit Riesenaufwand neue Hallen errichtet wurden – hier wären sie vorhanden gewesen. Erst durch die Volksabstimmung wurden jene Planungsrunden ausgelöst, die vor 15 Jahren noch wirkliche Verbesserungen, jetzt aber nur die Korrektur von Fehlentscheidungen bringen können.
Die andere Volksabstimmung wurde zum Gau der Großplaner in den Senats- und Bezirksverwaltungen. Seit Jahren träumen sie davon, die Spreeufer nahe dem Ostbahnhof zwischen den ehemaligen Bezirken Friedrichshain und Kreuzberg – inzwischen vereint zum einzigen Ost-West-Doppelbezirk Berlins – als Geschäfts-, Medienindustrie- und Wohnviertel auszubauen. Was in Hamburg, Amsterdam, London gelang, sollte auch in Berlin gelingen. Einige Gebäude stehen schon, kürzlich wurde die im Auftrag der Anschutz Group errichtete O2-Halle übergeben, ein gesichtsloses Effizienzmonster. Trotz aller formalen Bürgerbeteiligung fühlten sich viele Kreuzberger und Friedrichshainer, die die Uferbereiche längst für halblegale Strandbars in Besitz genommen haben, übergangen. Traditionell renitent – hier hat der einzige Grüne Direktabgeordnete des Bundestags, Christian Ströbele, seinen Wahlkreis – lehnten sie jetzt das von Investoren, Bezirk und Senat geschnürte städtebauliche Projekt »Mediaspree« mit großer Mehrheit ab. Zweifellos war bei dieser Ablehnung auch ein erheblicher Anteil Kirchturmperspektive leitend. Doch was ist dagegen zu sagen, wenn sie fordern, dass die immer noch horizontal geprägte Stadt von Hochhäusern verschont wird, dass die Bebauungsdichte auf Normalmaß gesenkt, Parkplatzzahlen reduziert, vierzig statt nur zehn Meter Abstand zur Spree eingehalten werden sowie ein durchgehender Uferweg entsteht?
Andererseits sind diese Spreeufergelände neben jenen am Hauptbahnhof und der in den späten sechziger Jahren von der DDR leer geräumten Berliner Altstadt die einzigen zusammenhängenden Flächenreserven der Berliner Innenstadt. Um Berlin wirtschaftlich auf die Beine zu helfen, werden sie benötigt, nur hier kann noch in großen, zusammenhängenden Einheiten gebaut werden. Die Ablehnung von »Mediaspree«, so sehr sie aus Friedrichshainer und Kreuzberger Sicht gerechtfertigt war, ist also direkt gegen die Interessen der Gesamtstadt gerichtet gewesen.
Hier wie bei der Tempelhof-Abstimmung (wenn sie durchgekommen wäre) zeigt sich: Die unkritische Implementierung des politischen Instruments Volksabstimmung in die Landesverfassungen ist nicht nur ärgerlich für Politiker und Planer – damit müssen diese leben. Sie ist aber auch geradezu demokratiefeindlich. Denn im Gegensatz zur Schweiz, die meist als Vorbild genannt wird, sind Volksabstimmungen in Deutschland nicht auch mit Volksverantwortung verbunden. Man kann für längere bayrische Schulzeiten, gegen Münchner Hochhäuser, für Berliner Religion, für Dresdner vandalische Brückenbauten in Unesco-Schutzgebieten stimmen – die finanzielle Verantwortung trägt immer die weit größere Gemeinschaft der Steuerzahler. In der Schweiz hingegen setzen Gemeinden, Kantone und der Bund jeweils ihre eigenen Steuern fest. Es gibt also eine wirkliche Verantwortung der Abstimmenden, sie müssen abwägen. Offenkundig ist das keine Hinderung für auch wagemutige Politik und gute Architektur, und offenkundig sind die Schweizer in der Lage, auch über die Interessen nur ihres Grundstücks zu entscheiden. Eben weil sie die Verantwortung tragen. In Tempelhof musste man sich nur um seine Erinnerungen, in Kreuzberg nur um den Uferweg kümmern, nicht aber um die Interessen der Investoren oder der Arbeitslosen, die bei möglichen Neuansiedlungen Jobs erhalten hätten, nicht um Großraumökologie, Energie-, Verkehrs- oder Kulturpolitik. Nicht Volksabstimmungen sind also das Problem, sondern die Verantwortungslosigkeit, mit der sie in Deutschland verbunden sind.
~Nikolaus Bernau
Der Autor ist Kunstwissenschaftler und Architekt. Er lebt und arbeitet als freier Architekturkritiker in Berlin.
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