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Das Ende der »Cité Artisanale«

Diskurs
Das Ende der »Cité Artisanale«

Sèvres: Gegen allen Widerstand wird vor den Toren von Paris ein einzigartiges Gebäudeensemble aus den sechziger Jahren abgerissen.

~Till Wöhler

Die »Route des Gardes« bildet die Grenzlinie zwischen den beiden Pariser Vorstädten Sèvres und Meudon südwestlich der Seine. Sie führt auf dem Weg nach Bruyères zu zwei äußerst sehenswerten historischen Siedlungen im Grünen: Auf der »schönen« Seite der Straße befinden sich die berühmten »Villen von Meudon«, eine Serie vorgefertigter Einfamilienhäuser aus Stahl und Aluminium, die Jean Prouvé kurz nach dem Krieg, Anfang der fünfziger Jahre entworfen hatte, um schnell preisgünstigen Wohnraum für Familien bereitzustellen. Heute sind sie denkmalgeschützte, begehrte und teure Designobjekte, in denen nur diejenigen wohnen, die es sich leisten können: Meudon gilt als einer der besseren Vororte von Paris mit entsprechend hohen Grundstückspreisen und Mieten. Umwoben von einer inzwischen sehr dichten Vegetation, liegen die Prouvé-Häuser versteckt im Grünen und sind nicht leicht zu entdecken – was Architekturstudenten und vor allem japanische Touristen – europäisches Design gilt als hip – nicht daran hindert, die Siedlung regelmäßig zu belagern.
Ein ganz anderes Bild zeigt, kaum zehn Meter entfernt, die »weniger schöne« Seite in Sèvres: Auch hier gibt es ein außergewöhnliches Kleinod der Nachkriegsmoderne, die »Cité Artisanale« (Stadt des Kunsthandwerks). In den Jahren 1964/ 65 bauten George Candilis, Alexis Josic und Shadrach Woods, allesamt Schüler von Le Corbusier, hier ein genuines Stück ihrer »architecture proliférante«, eine nach modularer Logik wuchernde Struktur aus flachen Gebäuden und Innenhöfen, wie sie spätestens mit dem Bau der »Rostlaube« der FU Berlin in den Siebzigern auch im deutschsprachigen Raum berühmt werden sollte. Die Cité Artisanale aus Sichtbeton und Metall beherbergte Arbeits- und Verkaufsflächen für Kunsthandwerker und wurde 1978 durch eine Aufstockung von Alexis Josic im Stil des Originals ergänzt. Obwohl unmittelbar an der Nationalstraße gelegen, ist sie inzwischen ebenso schwer zu entdecken wie Prouvés Metallhäuser im Wald: Seit die ehemalige Betreiberfirma die Gebäude verließ, um ihre Geschäfte ins Zentrum von Paris zu verlegen, wurde die Cité ihrem Schicksal überlassen und verkam. Im Vorbeifahren ist sie hinter wucherndem Gehölz und zwei großen Bauschildern kaum zu entdecken. Die Schilder teilen mit, dass hier bald ein Wohnhaus und einige mittelmäßige, aber in neo-klassizistischem Stil auf hochwertig getrimmte Altenwohnungen für wohlhabende Rentner entstehen sollen.
Pierre Lagard, ein ortsansässiger Architekt, entdeckte im Herbst 2006 eher zufällig, dass François Kosciusko-Morizet, Bürgermeister von Sèvres, die Erlaubnis zum Abriss erteilt hatte. Und das, obwohl dieses Ensemble in den Datenbeständen des französischen Kulturministeriums mehrere eindeutig positive und qualifizierende Einträge hinsichtlich seines historischen Wertes aufweist. Lagard lud Kulturinteressierte aus Sèvres und Meudon ein, um die Cité zu besichtigen und die architektonischen Qualitäten wieder von Neuem zu entdecken. Das Thema fand Eingang in diverse Internet-Blogs und wurde dort auch von prominenten Architekten wie Jean Nouvel diskutiert. Architekten, Historiker und Intellektuelle hatten sich zuvor Mühe gegeben, dem Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres die Qualitäten der Cité auseinanderzusetzen. Pierre Lagard richtete auch eine Petition für die Klassifizierung der Cité als Denkmal und gegen den Abriss an jenen Minister, welcher gemeinsam mit Jacques Chirac erst Ende Januar 2007 die Verträge zum Verkauf des Namens und eines nicht unerheblichen Teils des »Louvre« für einige hundert Millionen Dollars nach Abu Dhabi unterzeichnet hatte.
In seiner Petition wies Lagard den Minister nicht nur auf die Einträge in den Datenbanken des Ministeriums hin, in denen die Cité Artisanale als »historisch und stilprägend für die Architektur des 20. Jahrhunderts« bezeichnet wird, sondern stellte auch die berechtigte Frage, welchen Nutzen es haben könne, dass solch ein bedeutendes kulturelles Erbe insgesamt siebenmal als »schützenswert« bezeichnet werde, wenn ein Kulturminister, der zugleich Direktor der MIQCP (Mission Interministerielle pour la Qualité des Constructions Publiques) ist, nicht seinen Einfluss nutze, um die durch den Bürgermeister von Sèvres – übrigens ein Parteifreund des Ministers – erteilte Abrissgenehmigung aufzuheben.
Pierre Lagard und die ihn unterstützenden Architekten hatten den Bestand der Cité untersucht und unisono erklärt, dass sie nicht nur über eine gute Bausubstanz verfügt, sondern auch leicht umzunutzen sei – bestenfalls unter der Anleitung von Alexis Josic. Das Ministerium musste angesichts immer lauter werdender Proteste ein wenig nachgeben und hatte schließlich eine Untersuchung des Falls versprochen. Die Abrissgenehmigung blieb dessen ungeachtet weiterhin bestehen, so dass das Verschwinden der Cité Artisanale zunächst nur vorübergehend verschoben, nicht aber abgewehrt worden war. Inzwischen hatte ein Verkaufsbüro vor Ort 48 Prozent der angeblich qualitativ hochwertigen Altenwohnungen verkauft, die nun anstelle der Cité entstehen sollen. Es kamen aber auch ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung der Altenwohnungen auf, als bekannt wurde, dass die Stadtverwaltung von Sèvres das verwaiste und nur noch zum Teil bewohnte Gelände jahrelang illegal als Streusand-Deponie verwendet hatte. Für das kontaminierte Baugrundstück hätte keine Baugenehmigung erteilt werden dürfen.
Trotz aller Petitionen, Expertisen, Demonstrationen und Gegenrechnungen der aufgebrachten Bürger traf Kulturminister Donnedieu de Vabres inzwischen zwei Entscheidungen: Erstens ließ er die als »schützenswert« geführte Cité Artisanale nicht als »denkmalgeschützt« klassifizieren, obgleich zahlreiche der 300 unterzeichnenden Fachleute und Bürger gemeinsam mit ihrer Petition technische und finanzielle Lösungsvorschläge zur Rettung der Cité unterbreitet hatten. Zweitens forderte er seine Inspektoren auf, mit den Projektentwicklern auszuhandeln, »die Qualität der (neuen) Architektur nochmals zu überprüfen, damit die Neubauten besser mit den zehn Prozent der geschützten Architektur der Cité Artisanale »harmonieren«, wie der Direktor für Belange der Architektur im Kulturministerium erläuterte.
Zehn Prozent geschützte Architektur – das ist genau jener Teil, den Alexis Josic, der 84-jährige Architekt der Cité, selbst besitzt und bewohnt.
Diese zehn Prozent werden nun dank Josic tatsächlich unter Denkmalschutz gestellt, aber nur unter der Bedingung, dass er bereit ist, diesen Anteil zu verkaufen. Der in Ehren ergraute Josic darf in seinem Bereich wohnen bleiben, muss den Verkaufserlös aber für die denkmalgerechte Sanierung verwenden. Josic hat sich zu all dem bereit erklärt, um wenigstens einen Teil seines Werks zu retten, und will die Sanierungsmaßnahmen selbst überwachen. Der Abriss der restlichen neunzig Prozent hat bereits begonnen.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.
In der Rubrik »Adieu Cité artisanale !« hat der Journalist Pierre Bayle in seinem Weblog die Ereignisse und Diskussionen zusammengefasst: http://pierrebayle.typepad.com
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