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Bau-Bestiarium Barcelona

Diskurs
Bau-Bestiarium Barcelona

Die Umwandlung des Industrieviertels Poblenou in einen IT-, Medien- und Designpark ist nicht die einzige, strategisch jedoch die interessanteste urbanistische Großoperation in Barcelona. In Anspielung auf die frühere Kennzahl eines obsoleten Industriedistrikts erhielt das Projekt den Namen 22@BCN. Mit den ambitionierten Planungen spielt Barcelona um seine wirtschaftliche Zukunft – und versucht einmal mehr ein städtebauliches Modell zu prägen. Die Quartierserneuerung ist binnen zehn Jahren soweit gediehen, dass erste Einschätzungen der Erfolgsaussichten möglich sind.

~Markus Jakob

Ildefonso Cerdà schuf Barcelona noch einmal. Seinem vor 150 Jahren in Kraft gesetzten Erweiterungsplan sind derzeit mehrere Ausstellungen gewidmet – Rehabilitierung des lange verkannten Urbanisten, der mit seiner akribischen Teoría General de la Urbanización den Städtebau in den Rang einer Wissenschaft erhob. Jenseits der von der Tourismusbranche bevorzugten Wahrzeichen bleibt Cerdàs Gitter aus fast 800, 113 x 113 m messenden Häuserblöcken mit gekappten Ecken (den chaflánes) das eigentliche Merkmal, das Barcelona von anderen Städten unterscheidet.
Die Pracht des ab 1860, außerhalb des eben gefallenen Mauerrings, im Raster errichteten Stadtzentrums geht zu einem Gutteil auf die Profite zurück, die nordöstlich davon, in den Fabrikarealen des Poblenou erwirtschaftet wurden. Den Absichten des Urhebers entsprach weder die bourgeoise Verdichtung noch die industrielle Füllung seines egalitären Planfelds. Doch während selbst so extravagante Architekten wie Gaudí und die Modernisten die Einheitlichkeit des Ganzen respektierten, scherten sich die Bauherren der Industrieareale oft nicht einmal um die Baulinien; ein kilometerweit von Fabrikhallen übersätes Delirium.
Einige Stichdaten: 1975, Tod des Diktators Franco, Beginn der präzisen urbanistischen Eingriffe, die in den weiter ausgreifenden Planungen für die Olympischen Spiele 1992 kulminieren. Gleichzeitig erlebt das Poblenou als Produktionsstandort einen rapiden Niedergang; Künstler, Kreative aller Art, später auch obdachlose Immigranten nisten sich in den leeren Hallen ein. In einer Ecke des Viertels macht die Vila Olímpica mit dem Industrieerbe Tabula rasa; die sich alsbald fünf Kilometer weit erstreckende neue Ufer- und Strandfront erreicht nicht durchweg das erhoffte architektonische Niveau.
Als Cerdàs Avinguda Diagonal – im staubigen Poblenou durch Spekulationsbauten unpassierbar gemacht – 1999 endlich bis ans Meer verlängert wird, kann die nächste Stufe der Stadterneuerung gezündet werden. Der damalige Stadtplaner Josep Antón Acebillo lässt die bisherige Schmuddelecke der Stadt auf ungemein kühne Weise zum »Delta der Diagonale« ausbauen: Die ganz Barcelona durchschneidende Achse mündet in einen Betonteppich, der von Südeuropas größtem Kongresszentrum (Entwurf: J.L. Mateo), über die Autobahn und das Klärwerk hinwegsetzend, bis zur Mündung des Río Besós eine bemerkenswerte Kunstlandschaft bildet. Das Edificio Fòrum von Herzog & de Meuron steht hier so selbstverständlich wie ein skulpturales Solarenergiesegel in Nachbarschaft der Müllverbrennungsanlage und des notorischen Elendsviertels La Mina.
Lokal wie international blieb die Einzigartigkeit dieser Planung weitgehend unbemerkt. Doch sie bildet, verbunden mit der Plaça de les Glòries, an der Jean Nouvel seine Torre Agbar hochzog (unweit davon setzten bereits Bofills pompöses katalanisches Nationaltheater und Moneos in Corten gehülltes Auditorium kontrastreiche Zeichen für die künftige Bedeutung dieses Schnittpunkts der drei Hauptachsen der Stadt), das zweite Standbein eines Entwicklungsdreiecks, dessen dritte Flanke sich gemäß Acebillos Vision entlang einem linearen Park zum künftigen Bahnhof Sagrera ziehen wird.
Das klassische Industrieviertel Barcelonas war – einst als »Manchester des Mittelmeers« apostrophiert – bis vor Kurzem von einem dichten, unglaublich vielfältigen Netz gegenseitig sich alimentierender Hersteller und Zulieferer gekennzeichnet. Daher sollte es nicht der Wohnungs- und Tourismusspekulation ausgeliefert, sondern vielmehr als Standort für zukunftsträchtige Industrien neu lanciert werden.
Das grosse Ganze im Detail
Trotz Crash der Dotcom-Startups und Platzen der Immobilienblase blieb das Tempo, in dem sich das Viertel wandelte, verblüffend. Aus Trümmerlandschaften erstanden Glasburgen: 3,2 Mio. m² gewerblich nutzbarer Geschossfläche wurden den Investoren in Aussicht gestellt. Durch die Erhöhung der Geschossflächenzahl von 2,2 auf 2,7 wurden 800 000 m² für Sozialwohnungen, weitere soziale Einrichtungen und neue Grünzonen gewonnen, unter der Bedingung, dass die Eigentümer der Gemeinde 10 % ihres Grunds überließen. Fünf über das gesamte Gebiet verteilte »Cluster« – IT, Energie, Medien, TecMed und Design – wurden dazu ausersehen, die Attraktivität des Distrikts für Branchen zu erhöhen, in denen die Stadt entweder eine führende Rolle spielt – so in der Biomedizin oder als Verlagshauptstadt des spanischen Sprachraums – oder sie, wie in den Sektoren Energie und elektronische Medien, an Madrid verloren hat.
  • 180 Mio. Euro wurden in Infrastrukturen investiert: Verkabelung, leicht zugängliche Schächte unter verbreiterten Trottoirs, Radwege, pneumatische Müllentsorgung, alles mit dem ortsüblichen Know-how für durchgestylte »elementos urbanos« wie Bänke, Straßenlampen, Metroeingänge. Der radikale Wandel des Viertels stieß dennoch nicht überall auf Gegenliebe. Das Poblenou mochte zu 80 % ein reiner Industriedistrikt sein, doch in seiner Mitte, um eine liebreizende Rambla, zieht sich ein geschichtsreiches Wohnviertel meerwärts, abgesehen von einigen tausend erst nachträglich legalisierten Wohnungen in den Industriezonen. Und so wie die alteingesessenen Anwohner mit ihren noch heute kämpferischen Vereinigungen an Achsen wie dem Carrer Llacuna eine Beschränkung der von der Stadt vorgesehenen Bauhöhen durchsetzten, so probten auch die neuen Insassen der alten Fabrikareale wiederholt den Aufstand gegen den 22@, hatten sie die obsolet gewordenen Strukturen doch als erste neu – heterogener als zuvor – zu nutzen verstanden. Can Ricart und La Escocesa sind die bekanntesten Beispiele für den nicht ganz vergeblichen Widerstand dagegen, solch nachgerade dörfliche Anlagen der vollständigen Zerstörung preiszugeben.
  • Cerdà revisited – gerne heterogen
  • 2008 legte Jean Nouvel seinen verspielten, vor allem wegen seiner gaudianisch inspirierten Ummauerung stark kritisierten Zentralpark des Viertels um die Kreuzung der Diagonale mit dem Carrer Pere IV an. Gegenüber brachte sein Landsmann Dominique Perrault das sich selbst huckepack nehmende Hotel Sky auf 110 m Höhe – eine Landmarke im Business-Anzug.
Im Innern der zu Clustern formierten Blöcke setzte sich eine der Blockrandbebauung entgegengesetzte Gliederung durch, in gewissem Sinn der vorherigen industriellen Okkupation entsprechend, mit ihr freilich durch Bauhöhen von 20 und mehr Geschossen stark kontrastierend; am klarsten zu erkennen im Media- und IT-Cluster, der auch Bauten der Universität Pompeu Fabra (UPF) aufnimmt, die schon seit Jahren durch intelligente Umnutzungen alter, zentrumsnaher Gebäude auffällt.
Einzelbauten
Der Masterplan von Beth Galí unterstreicht mit einer dichten Reihung von 60 bis 80 m hohen Bauten entlang der Diagonale deren Charakter als Hauptarterie, um durch die Bildung von hof- und passagenartigen Situationen in die teilweise erhaltene Welt des ungleich niedriger bebauten Industrieviertels überzuleiten. Obwohl dabei der in seinen Umrissen restituierte Block im Innern freier denn je aufgelöst wird, ist es nicht gelungen, den intimen Charakter der stillgelegten Fabrikareale auferstehen zu lassen. Zu kärglich vielleicht die Überreste des Alten; mehr noch aber ist es ein Zuviel an architektonischem Ehrgeiz auf zu engem Raum, der keine städtische Harmonie entstehen lässt; ein zwar präzis geplantes, aber teils disparat anmutendes architektonisches Bestiarium.
Einige dieser Biester wirken umso plumper, wenn sie – wie die Bürotürme von David Chipperfield – eine Blickachse auf ein luftig, fast schwebend erscheinendes Gebäude eröffnen: das Edifcio Indra von b70 (Fermín Vázquez), das mit seinen schlanken Proportionen den Cerdà’schen chaflán elegant interpretiert und dessen Fassadensytem – die äußere Haut ein Stahlgewebe mit konvex-konkaven Ausbuchtungen – für ein so leichtes wie unverwechselbares Erscheinungsbild sorgt.
Wiederum ganz anders, gravitätisch mit seiner nach außen gelegten Stahlstruktur, fest verankert und doch durchlässig präsentiert sich das Edificio Imagina von Carles Ferrater für den audiovisuellen Produktionsgiganten Mediapro, dessen Volumen, von den eigenen Schatten nuanciert, geschickt die Geometrien der Umgebung abbildet. Bedauerlich nur, dass dieser fraglos eindrücklichste Neubau an der Diagonale nun hinter seinem Nachbarn fast verschwindet: dem Hauptsitz des Verlagskonzerns RBA, entworfen von MBM, der Firma des einst in Barcelona so einflussreichen Architekten und Planers Oriol Bohigas.
Am meisten Medienaufmerksamkeit hat der würfelförmige Bau von Enric Ruiz-Geli erhalten, der unter dem Namen Media-TIC als Begegnungsstätte für unternehmerische und universitäre Aktivitäten dient. Das Stahlskelett des Baus, Reminiszenz an die alten Fabrikhallen, erhebt sich auf neun Geschosse, und die spektakuläre hydraulische Anhebung seiner Dachstruktur versprach auch für die vier unterschiedlich gestalteten Fassaden Ungewöhnliches. Doch selbst die feine, als Sonnenfilter konzipierte Plastik-Haut (ETFE) der Südfassade ist vermutlich technisch raffinierter, als es ihr Ausdruck verrät. Gleich daneben wirkt das kunterbunte Äußere des ansonsten bescheidenen Baus, mit dem Telefónica de España ihren Beitrag zu diesem Architekturzoo leisten zu müssen glaubte, bloß peinlich. Und die Architekten Batlle i Roig steuerten mit dem Edificio Interface einen passablen Nachfolger jener für die späten Glanzjahre des Industrieviertels typischen Gewerbebauten bei – gläsern nun und mit 20 Geschossen doppelt so hoch –; unweit davon aber erscheint der von denselben Architekten erstellte Sitz der CMT (der staatlichen Kontrollstelle für die Telekommunikation) mehr als gewollt originell, schon fast monströs.
So wie es bisher allein Ferrater unzweifelhaft gelang, ein der neuen Diagonale wohl anstehendes Gesicht zu verleihen – von ihm stammt im Poblenou auch ein Wohnbau, der den Cerdà’schen chaflán mit filigranen Geometrien auf delikateste Weise neu interpretiert –, so gebührt Jordi Badía und seinem Büro BAAS das Verdienst, auf dem einst dichtgepackten Areal von Can Framis zwei an sich unbedeutende Fabrikhallen neu genutzt, durch einen Sichtbetonriegel verbunden und so ein Museum geschaffen zu haben, das eine Privatsammlung katalanischer Kunst des 20. Jahrhunderts aufnimmt. Interessanter als diese ist das Geschick, mit dem die Architekten auf dem um 1,5 m versenkten, nun als Garten gestalteten Gelände das Industrieerbe durch die Nachbildung der für solche Gevierte typischen Plaza, die Behandlung der nunmehr fensterlosen und vom Putz befreiten, dafür unter einem lasierenden Anstrich ihr ursprüngliches Stein- und Ziegelgemäuer darbietenden Hallen sowie die Hinzufügung eines die ursprünglichen Baulinien respektierenden Neubaus, lebendig werden ließen. Die Beispiele für einen so einfühlsamen Umgang mit dem Bauerbe sind leider an einer Hand aufzuzählen. •
Der Autor, 1954 in Bern geboren, war langjähriger Kulturkorrespondent für die Neue Zürcher Zeitung in Spanien, arbeitet als Übersetzer, freier Journalist und Buchautor in Barcelona.
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