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Aus Hügeln wird Asphalt

Städtebauliche Qualifizierung zweier Favelas in Rio de Janeiro
Aus Hügeln wird Asphalt

Favela – Mitteleuropäer haben bei diesem Wort Wellblechhütten, Ratten und Kriminalität vor Augen. Was die Presse regelmäßig von den brasilianischen Armensiedlungen berichtet, ist tatsächlich keineswegs rosig: Allein in Rio de Janeiro sollen mehrere 10000 Minderjährige schwer bewaffnet in den Diensten der drei großen Banden der Drogenmafia stehen, die jede Favela der Stadt beherrschen. Untereinander und mit der korrupten Polizei führen sie brutale Kämpfe, bei denen nicht selten auch Kinder sterben. Rio teilt sich in »Hügel« und »Asphalt«: Die »Hügel«, das sind die über 500 Favelas, in denen angeblich mehr als zwanzig Prozent der 10 Millionen Einwohner Rios illegal leben und die von den anderen Stadtbewohnern (vom »Asphalt«) nicht betreten werden – es sei denn zum Kauf von Kokain. Doch trotz alldem gibt es in dieser Stadt Projekte, darunter eines vom Bauhaus, mit denen man versucht, diese Orte als Lebensraum aufzuwerten,

Favela-Barrio und Celula Urbana Vorbei am berühmten Strand von Ipanema, fahren wir zum Fuße von Vidigal, einer alten Favela mit geschätzten 16000 Einwohnern. Ein zum Favela-Taxi umfunktionierter, alter VW Bus kriecht die einzige befahrbare Straße hoch. Mit dabei sind die Projektverantwortlichen der Stadtverwaltung Lu Petersen und Dietmar Starke sowie Maria, die Leiterin der Nachbarschaftsorganisation – unsere »Lebensversicherung«, wie es heißt. Was wir anschließend sehen, gleicht eher einem mediterranen Bergdorf als einem Slum: solide dreigeschossige Häuser, kaum herumliegender Müll, viele Geschäfte und eine atemberaubende Aussicht – unterhalb des Patchworks aus unzähligen kleinen Flachdächern ragen die Hochhäuser des Asphalts über die weißen Strände, dahinter das Meer.
Vor über sechzig Jahren begann Vidigal, den Berg hoch zu kriechen. Mit den neuen Behausungen der Ärmsten voran, drängte die illegale Siedlung die Mata Atlântica, den einst das gesamte Ufer bedeckenden Regenwald, immer weiter zurück. Erosionen waren die Folge. Lu Petersen deutet auf den steilen Hang über uns, der zum Teil mit Spritzbeton überzogen und verankert, zum Teil mit schnell wachsenden Bäumen bepflanzt ist – »1986 rutschten hier zwanzig Familien ab.« Sobald der Hang einigermaßen gefestigt ist, erklärt sie, werde hier der Wald wieder aufgeforstet. Ihr ist es zu verdanken, dass Vidigal, wie über fünfzig andere Favelas, gepflasterte und beleuchtete Straßen und eine Bushaltestelle besitzt. 150000 Haushalte haben inzwischen fließendes Wasser und einen Abwasseranschluss, der Müll wird abtransportiert. Favela-Bairro heißt das Projekt (Bairro: portugiesisch für Quartier), dessen Vorläufer bereits Anfang der achtziger Jahre einen wichtigen Wandel ankündigten: Der Staat hörte auf, die Armensiedlungen wie bisher zu ächten und zu zerstören und begann, langjährigen Bewohnern das Besitzrecht für ihr Grundstück auszustellen. Die Favelas sollten zu einem Teil der Stadt, aus Hügeln sollte Asphalt werden.
»Treppen sind Luxus«, sagt Lu Petersen an einem Aussichtspunkt in Vidigal. Wir steigen über eine Treppenanlage auf einen Platz – Stufen gab es hier vorher genauso wenig wie Geländer und eine Rinne für Regenwasser. An dieser Stelle sollte eine Seilbahn enden, die Bewohner wie Besucher an diesen schönen Ort gebracht hätte – und das Integrationsprojekt auf eine nächste Stufe: Celula Urbana. Beschränkt man sich bei Favela-Bairro darauf, die dringend notwendige bauliche Infrastruktur zu schaffen, so versucht Celula Urbana den Austausch zwischen Stadt und Favela in Gang zu setzen, den Siedlungen ihr Stigma zu nehmen und auch Nicht-Favelados hierher zu locken. Die Seilbahn konnte nicht finanziert werden. Dafür besitzt Vidigal mittlerweile zwei Krippen, Waschhaus sowie Gemeinschafts- und Schulzentrum, in dem die Kinder und Jugendlichen Sportkurse besuchen können – allerdings nur, wenn sie auch regelmäßig zur Schule gehen. Der Sportplatz blickt in die Landschaft, wie man es sonst nur vom Theater in Delphi kennt.
Bauhaus-Modellprojekt Wir machen uns auf den Weg zur nächsten Station, die an einem von der Natur weniger begünstigten Ort liegt. Jacarézinho befindet sich nicht auf, sondern hinter den Hügeln, in einer relativ flachen, scheinbar endlosen Betonwüste. Mit 60000 Einwohnern ist sie die zweitgrößte Favela der Stadt und noch älter als Vidigal. Eine Bahnlinie, ein Kanal und Industrieanlagen begrenzen die 35 Hektar große Siedlung, die man, wie alle Favelas, in einem Falk-Plan vergeblich sucht. Gespannt sitzen wir im gecharterten Auto; der Fahrer ermahnt uns, in der Stadt die Fenster geschlossen zu halten. Kaum rollt der Wagen jedoch im Schritttempo über den Bahnübergang, das Tor von Jacarézinho, entriegelt er alle Türen und lässt die Fenster hinuntergleiten. In der Favela herrschen eigene Gesetze – die der Drogenbosse. Wer hier jemanden bestiehlt oder ermordet, ist seines Lebens nicht mehr sicher. »Hier muss man eigentlich nur vor der Polizei Angst haben« – Dietmar Starke versucht uns Mut zu machen. Er hatte die Idee zu dem Celula-Urbana-Projekt, vor dem wir nun stehen und das, im Gegensatz zu der Seilbahn für Vidigal, zum Teil schon verwirklicht ist.
Der deutschstämmige Brasilianer verbrachte einen Teil seines Studiums in Berlin. Er lud die Stiftung Bauhaus vor vier Jahren zu einem Modellprojekt für Jacarézinho ein, die sogleich ein Kolleg organisierte, um den Ort multidisziplinär zu untersuchen und mittels Aktionen zu bespielen. Anschließend suchte das Team von Omar Akbar nach möglichen Verbesserungen der Wohnverhältnisse. In ihrem Konzept sollen die kleinen Parzellen der enorm dichten Baublöcke zusammengelegt und neue Höfe sowie Gebäude implantiert werden. Die geplante natürliche Ventilation, die neuen Erschließungsformen und nur noch gewerblich genutzten Erdgeschosse sind für die deutschen Planer »prototypische, in der gesamten Favela einsetzbare Eingriffe«, die von den Bewohnern übernommen werden sollen.
Beim Rundgang in Jacarézinho sind wir, trotz fehlender Aussicht, überwältigt: In den Gassen herrscht ein reges Treiben, ein Straßenleben, das man in der brasilianischen Metropole so nicht mehr findet, wo sich das öffentliche Leben mittlerweile auf bewachte Shoppingcenter zurückgezogen hat. Wir passieren Restaurants, Bars und viele Läden, in denen man »alles kaufen kann, außer ein neues Auto und eine Flugreise«. Es gäbe Sambaschulen, zwei Radiosender und vor der Verslumung in den sechziger Jahren hatte Jacarézinho sogar ein Kino. Ein möglicher Ersatz dafür öffnete Anfang August seine Türen: Das vom Bauhaus geplante, viergeschossige Medienzentrum, das neben Internetcafé und Informationszentrum einer Medienschule Raum bietet, wo Experten aus Rio und dem österreichischen Linz Ausbildungskurse geben werden.
Das Gebäude, Nukleus genannt, soll den Favelados neue Perspektiven bieten und Menschen von außen hineinlocken. Die Fensterläden der oberen Etagen leuchten bunt über den meist dreigeschossigen Nachbargebäuden und sind auch von den vorbeifahrenden Nahverkehrszügen aus zu sehen. Bald soll eine Brücke über die Gleise führen und in einer Tribüne auf dem Platz enden, der schon vor einiger Zeit als Favela-Bairro-Projekt angelegt wurde. Hier sollen in Zukunft Filme auf die semitransparente Glasscheibe des Nukleus projiziert werden und vieles mehr. Das Leben auf diesem Platz wird dann dafür sorgen, dass sich die Stadtbewohner sicher fühlen und über die Brücke trauen – das wünscht sich zumindest der verantwortliche Dessauer Architekt Rainer Weisbach.
Wie schwierig es ist, an einem zugleich erschreckenden und faszinierenden Ort wie Jacarézinho bauliche Verbesserungen zu planen, zeigt ein Blick auf das Gesamtprojekt des Bauhauses. Uns bleiben Zweifel, ob die vorgeschlagenen Höfe, die sich an keiner Stelle in der Favela finden, wirklich »nachhaltige und eigendynamische Prozesse« initiieren können – zu schulmeisterlich, zu europäisch scheinen Herangehensweise und Vorschläge in dieser vollkommen anderen Welt. Vielleicht darf man aber auch nicht die Kraft, die eine aus sich heraus entstandene Struktur birgt, bei den Neuplanungen erwarten. Doch die wesentliche Frage bleibt: Wie wird die die »Hügel« beherrschende Mafia auf die gewünschte Öffnung zum »Asphalt« reagieren? Fakt ist, dass Presse und Fernsehen erstmals positiv über Jacarézinho berichtet haben. Und wer einmal dort war, bei dem wird in Zukunft das Wort Favela andere Bilder wecken.
Axel Simon
Der Autor ist als Architekturkritiker beim Tagesanzeiger in Zürich tätig.
Der Sportplatz in Vidigal
Treppen in Vidigal
Blick auf die Favela Jacarézinho mit dem Medienzentrum
Das Medienzentrum in Jacarézinho (Architekt: Rainer Weisbach)
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