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Am Ufer des arabischen Sees

Diskurs
Am Ufer des arabischen Sees

Das Ziel, es vielen, wenn nicht gar allen Beteiligten recht zu machen, scheint unerreichbar. Die Hartnäckigkeit, mit der im nordischen Städtebau im Allgemeinen und im finnischen im Besonderen dennoch daran gearbeitet wird, führt zu erstaunlichen Ergebnissen. Exemplarisch hierfür steht ein Neubaugebiet in der finnischen Hauptstadt Helsinki mit dem denkbar un-nordischen Namen »Arabianranta«.

~Ulf Meyer

Die Planungsgedanken, die dem Gebiet zugrunde liegen, kreisen um Themen von weltweiter Relevanz, was »Arabianranta« auch international so interessant macht: die Nachnutzung einer alten Fabrik samt kontaminiertem Industrieareal, in diesem Fall der Porzellan- und Glaswarenfabrik Arabia, und deren Integration in einen modernen Stadtteil. Das neue Quartier rings um die alte Produktionshalle unweit des Vanhankaupungin-Sees bildet, städtebaulich gesehen, den Übergang von Stadt zur offenen, naturbelassenen Seenlandschaft. Außergewöhnlich ist Arabianranta jedoch nur, weil der ambitionierten Durchmischung unterschiedlicher Nutzungen – Arbeiten, Wohnen, Einkaufen, Bildung und Erholung – ein mindestens ebenso ehrgeiziger Plan für die Durchmischung sozialer Schichten folgte. Teure Eigentumswohnungen liegen hier nicht zufällig direkt neben Behinderten-, Sozial-, Alten- und Studentenwohnungen. Während die Aufspaltung in verschiedene sozial gestaffelte Marktsegmente mittlerweile auch in Deutschland längst akzeptiert ist, folgt der Masterplan für Arabianranta von Pekka Pakkala und Mikael Sundman einem ur-sozialdemokratischen Ideal, das wohl so nur noch in Finnland möglich ist – ohne dabei altmodisch zu wirken!
Rund um das Gelände der ehemals größten Porzellanfabrik Europas, die bis heute unter anderem die berühmten Alvar-Aalto-Glasvasen produziert, die in keiner Architektenwohnung fehlen dürfen, wurde die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten ernst genommen. Ein kleiner Teil der Produktion ist auf dem Gelände verblieben.
Das Neubauviertel Arabianranta (finnisch: Arabia-Strand) nennt sich stolz eine »Stadt der Kunst und des Designs«. Das ist nicht nur ein modisches Label, weil neben den design-affinen Firmen der Hackman-Gruppe, zu der die Firma Arabia heute gehört, auch die Universität für Kunst und Gestaltung Helsinki und das einzige finnische Pop-, Rock- und Jazz-Konservatorium auf dem ehemaligen Industriegelände ihre neue Heimat gefunden haben. Hinzu kommen noch das Arcada Polytechnikum, das einzige schwedischsprachige Polytechnikum in Finnland, eine Grund-, eine Berufs- und zwei städtische Fachhochschulen sowie eine große Bibliothek – Finnland schneidet bei den Pisa-Studien zum Bildungsniveau stets vorbildlich ab.
Der Kunstanspruch wurde aber auch ganz wörtlich genommen – in Form eines großen Kunst-am-Bau-Programms: Zwei Prozent der Grundstückskosten mussten die beteiligten Bauherren für ortspezifische Kunstwerke ausgeben. Als Koordinatorin fungierte die Architektin Tuula Isohanni, die zwischen Künstlern, Architekten und Bauherren vermittelte. Über 50 Kunstwerke sind so fester Bestandteil der Gebäude von Arbianranta geworden, die teils direkten Bezug auf die industrielle Vorgeschichte des Geländes nehmen. Die Kunstwerke finden sich nicht nur in den Höfen, sondern auch in halböffentlichen Bereichen wie Fluren und Treppenhäusern. Dreimal so viele künstlerische Interventionen wird Arabianranta zählen, wenn auch der zweite, städtebaulich etwas strenger konzipierte Bauabschnitt fertiggestellt sein wird. Ab 2013 sollen 7000 Einwohner am »Arabischen Strand« leben.
Der Ort
Die florierende Stadt Helsinki wächst im Schnitt um 3400 Einwohner pro Jahr, überwiegend durch Binnenwanderung aus der finnischen Provinz in die Kapitale.
Arabianranta liegt im Nordosten der Halbinsel, auf der sich die Innenstadt von Helsinki ausbreitet. Obwohl es mit einer der beiden neuen Tramlinien, die das Neubauviertel mit der Kernstadt verbinden, nur zehn Minuten dauert, in die Innenstadt zu fahren, wirkt die Natur hier noch weitgehend unberührt. Die Tramlinien führen entlang der Hämeentie-Straße, die aus der Innenstadt nach Norden führt und das Quartier durchschneidet. Auf der anderen Seite der Bucht liegt ein großes Vogelschutzgebiet. Dennoch hat das Areal eine wichtige historische Bedeutung: Weil nur wenige Meter von der alten Keramikfabrik entfernt im Jahr 1550 die mittelalterliche Vorgänger-Stadt von Helsinki, Helsingfors, gegründet wurde, gilt Arabianranta in Finnland als »fast mystischer Ort«. Zum damaligen Hafen, der die schwedische Vormachtstellung auch auf den Seewegen sichern sollte, passt die ungewöhnliche Bezeichnung Arabianranta, die in den umliegenden Straßen mit exotische Namen wie »India« oder »Sumatra« ihre Entsprechung findet.
Städtebau
Der Boden rings um die Keramikfabrik war stark schadstoffbelastet und musste aufwändig ausgetauscht werden. Da das den Bau des Viertels erheblich verteuerte, mussten die Planer sich etwas Besonderes einfallen lassen, um den neuen Stadtteil trotzdem preislich attraktiv zu machen: Die Stadt lobte dazu offene »site competitions« aus, bei denen sich interessierte Bauherren qualifizieren konnten. Sie gab auch Preisobergrenzen vor, um trotz dieser Art von Versteigerung das Preisniveau im Zaum zu halten. Die beteiligten privaten Investoren haben sich in einem Verein zusammengeschlossen, um die Parkplätze und gemeinschaftlichen (Außen-)Anlagen zu planen und zu finanzieren. Rund um den Campus haben sich seit dem Baubeginn im Jahr 2000 bereits etwa 300 – meist kleinere – Firmen angesiedelt.
Rings um den großen Arabia-Fabrikverkauf ist eine Einkaufspassage für Design-Produkte entstanden, die auch Käufer aus anderen Stadt- und Landesteilen anzieht.
Die Wohngebiete von Arabianranta, die auf städtischem Grund entstanden, teilen sich einen unverbauten Blick auf den nahe gelegenen See, der sich vom Sörnäinen-Hafen bis zur Mündung des Vantaanjoki-Flusses erstreckt. Selbst an seiner schmalsten Stelle ist der öffentliche Uferstreifen noch etwa 50 Meter breit. Städtebaulich war es die Aufgabe der Planer, das geschützte Seeufer dennoch mit der Stadt zu verbinden. ›
› U-förmige Blöcke bilden das Grundmuster der Anlage. Sie öffnen sich zur Bucht hin, werden mit zunehmender Nähe zum Wasser immer niedriger und lösen sich schließlich in frei stehende Stadtvillen auf. Zur Straße hin haben alle Gebäude Klinkerfassaden, zum Hof hin meist hellere Putzflächen. Durch die in Finnland allgegenwärtigen Balkonverglasungen wirken die Gebäude blockhafter als in Mitteleuropa üblich.
Hi-Tech
Im »Nokia-Land« gibt es eine neue – vielleicht typisch finnische – Verknüpfung von IT und Architektur: Im »Virtual Village« von Arabianranta hat jedes Haus eine eigene Webseite, auf der sich die Bewohner schon vorab im virtuellen Raum mit ihren Nachbarn treffen können. Das dient jedoch nicht nur zur Anbahnung sozialer Kontakte zwischen den als schüchtern bis verschlossen und mundfaul geltenden Finnen, es wird auch im täglichen Bewohnerleben eingesetzt: für in Finnland so essenzielle Dinge wie die Belegungsbuchung der Gemeinschaftssauna oder des Kaminzimmers etwa, die sich auf dem Dach jedes Hauses befinden. Technisches Rückgrat des »broadband local area network« von Arabianranta ist ein Glasfaserkabel mit einer Leistung von 1 Gbps. Die Europäische Union hatte dieses Pilotprojekt im Rahmen der »IntelCities«-Initiative für »E-participation« 2004–05 gefördert. Alle Wohnungen haben einen kostenlosen 10-Mbps-Ethernet-Anschluss für Datenverkehr, Voice-over-IP-Telefonie und das Facility Management. Hinzu kommen öffentliche WLAN-Hotspots für die Studenten der umliegenden Hochschulen. Das »Helsinki Virtual Village« bietet zusätzlich Extranets für jedes Haus. Jeweils ein ausgewählter Bewohner agiert dabei als Moderator.
Wirtschaftlicher Hintergrund
Arabianranta ist in erster Linie ein städtebauliches und wirtschaftliches Projekt der Stadt Helsinki und soll die internationale Reputation der finnischen Kapitale als »Kunst-, Design- und Medienstadt« stärken. Bemerkenswert ist, dass sich in Helsinki etwa zwei Drittel des Stadtgebiets in städtischem Besitz befinden und die Gemeinde damit ungewöhnlich starke Einflussmöglichkeiten auf ihre Stadtentwicklung hat. In Arabianranta gehören sogar fast alle Flächen der Stadt. Etwa vierzig Prozent der bisher fertiggestellten 3400 Wohnungen in Arabianranta sind Mietwohnungen, während die wassernahen Häuser privat finanziert und meist als teure Eigentumswohnungen verkauft wurden. Sie unterliegen jedoch einer »Cost-Quality Control« der Stadt, nach der die Besitzer beispielsweise nicht die Preise erhöhen dürfen, ohne auch zugleich die Qualität zu erhöhen.
Firmen aus den Design- und Medienbereichen sollen in den neuen Vorzeige-Stadtteil gelockt werden. Ein »Arabus« genannter Inkubator hilft dabei Firmengründern finanziell und organisatorisch auf die Sprünge und ist mit den örtlichen Hochschulen assoziiert.
Ausblick
Das »Living Lab« genannte Konzept von Arabianranta soll wie in einem Freiluftexperiment die alltäglichen Bedürfnisse der Bewohner mit der Forschung und Produktentwicklung der IT- und Designbranche verbinden. Das neue Stadtgebiet ist heute halbfertig. Bis 2010 sollen schon 10 000 Bewohner, 7000 Arbeitnehmer und 6000 Studenten in Arbianranta leben, arbeiten und lernen. Bis dahin wird das ehemals verseuchte Industrieareal wohl schon lange einer der begehrtesten neuen Standorte in der finnischen Hauptstadt sein und sich mit dem ehemals proletarisch geprägten Viertel rund um die namensgebende Fabrik verbunden haben. Selbst wenn die Architektur von Arabianranta überwiegend medioker wirkt, liegt die wahre Qualität des Areals in den städtebaulichen Grundzügen, die es allen Beteiligten recht machen wollen – und gerade dadurch die ganze Gesellschaft ansprechen und daraus ihr urbanes Potenzial beziehen. Trotz der geplanten Heranzüchtung eines wirtschaftspolitisch gewollten Clusters sind Bewohner und Besucher nie weit von dem spröden Charme der finnischen Landschaft entfernt. Das macht Arabianranta unverwechselbar finnisch.
Der Autor studierte Architektur in Berlin und Chikago. Er lebt in Berlin und arbeitet als freier Architekturjournalist für verschiedene Fachzeitschriften und Tageszeitungen.
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