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7:5 für die Neubauten

Stadionarchitektur der Fussball-WM 2014 in Brasilien
7:5 für die Neubauten

Die insgesamt 64 WM-Begegnungen werden 2014 in zwölf unterschiedlichen Spielstätten ausgetragen, auf die der Blick auch in architektonischer und konstruktiver Hinsicht lohnt. Bei fünf Stadien handelt es sich um ältere Bauwerke, die modernisiert und umgebaut wurden; sieben sind dagegen neu entstanden. An der Hälfte der Bauprojekte wirkten deutsche Planer maßgeblich mit; ein Drittel der Bauten hat unser Autor persönlich besichtigt und fotografiert.

~Robert Mehl

Das 192 Mio. Einwohner zählende Brasilien ist der flächen- und bevölkerungsmäßig fünftgrößte Staat der Erde. Vielleicht mag auch das ein Grund dafür sein, dass die Begegnungen in diesem ausgesprochen fußballbegeisterten Land auf zwölf Austragungsorte verteilt sein werden – vor vier Jahren in Südafrika waren es noch zehn Stadien in neun verschiedenen Städten. Fünf der brasilianischen Spielstätten (Belo, Horizonte, Curitiba, Fortaleza, Porto Alegre und natürlich das altehrwürdige Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro) wurden weitreichend modernisiert und umgebaut. Sieben weitere sind letztlich als Neubauten zu betrachten; sie stehen in der Hauptstadt Brasília, in Cuiabá, Manaus, Natal, Recife, Salvador da Bahia und in São Paulo.
Auftakt in São Paulo, Finale in Rio
Durch den Sturz eines Krans auf das Stadiondach hat die Arena de São Paulo unlängst bedauerliche Berühmtheit erlangt, was letztlich auch den bereits von Anfang an bestehenden Zeitdruck noch einmal verschärft hat. Der ortsansässige Fußballverein Corinthians hatte erst vor knapp zwei Jahren den endgültigen Zuschlag erhalten. Denn für die ursprünglich angedachten Umbaukonzepte verschiedener älterer Stadien konnte keine Einigung hinsichtlich der Finanzierung erzielt werden. Der Weltverband FIFA disponierte daraufhin kurzfristig um, und man entschied sich für einen Neubau im Stadtteil Itaquera. Corinthians wollte auf seinem ehemaligen Trainingsgelände ohnehin eine neue Arena bauen; der vorhandene Entwurf des brasilianischen Architekturbüros CDCA musste lediglich an die internationalen Vorgaben angepasst werden. Als eines von insgesamt nur drei Stadien der WM beschreibt der Bau eine rechteckige Grundfigur und besitzt damit vier baulich eindeutig ablesbare Tribünen. Die westliche Haupttribüne besteht aus drei Rängen, die gegenüberliegende Osttribüne aus zwei Zuschauerebenen. Zwischen den beiden Tribünen spannt stützenfrei eine 200 x 245 m messende, leicht nach Osten hin abfallende Dachfläche, die oberhalb des Spielfelds eine 150 x 85 m große Öffnung aufweist. Die Konstruktion dieses extrem flachen, räumlichen Stahlfachwerks wurde vom Stuttgarter Ingenieurbüro Werner Sobek konzipiert und umgesetzt. Bemerkenswert sind auch die Nord- und die Südseite, an denen jeweils temporäre Tribünen errichtet wurden. Nach der WM verbleiben dort nur die im Erdreich liegenden Unterränge.
Insgesamt 80 % des brasilianischen Bruttosozialprodukts werden im Südosten, im Einzugsgebiet von São Paulo und Rio de Janeiro erwirtschaftet. Entsprechend rivalisierend stehen sich die beiden Städte gegenüber. Dabei sieht sich die Industriestadt São Paulo mit der zweithöchsten Hubschrauberdichte nach New York als diejenige, die das Geld erarbeitet, das wiederum in der zweiten, der »Schönen«, verprasst wird. Insofern verstand es sich von selbst, dass in São Paulo ein besonderes Ereignis der WM stattzufinden hat: das Eröffnungsspiel. Ort des Endspiels ist – natürlich – das altehrwürdige Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro mit 76 804 Zuschauerplätzen (das ursprüngliche Fassungsvermögen lag angeblich bei über 180 000). Dazu wurden die bestehenden Ränge und das Dach der denkmalgeschützten Spielstätte abgerissen. Nur die Außenfassade des im Jahr 1950 errichteten, annähernd runden Stadions blieb erhalten. Das neue Dach schließt unauffällig daran an, um die zwei neuen Ränge, die nun deutlich weiter zur Mitte vorgezogen sind, nahezu vollständig vor Witterungseinflüssen zu schützen.
Ringseilkonstruktionen
Im Maracanã, dem Estádio Jornalista Mário Filho, kam mit einem Ringseildach ein für Stadien derzeit ausgesprochen beliebtes Konstruktionsprinzip zur Ausführung. Bei dieser WM treffen wir es außerdem in Brasília und in Salvador da Bahia an. Die dazugehörigen Konzepte stammen ebenfalls von Stuttgarter Planungsbüros, nämlich von schlaich bergermann und partner (Rio de Janeiro und Brasília) und RFR (Dachtragwerk in Salvador).
Ringseilkonstruktionen basieren auf der Idee radialer Zugkräfte, ähnlich wie bei einem Fahrrad. Von einem inneren Zugring gehen strahlenförmig die Speichen ab, die wiederum außen an einem Druckring befestigt sind. Bei den Arenen ist der innenliegende Zugring im Verhältnis aber ungleich größer. Er umschließt eine große, rundliche Öffnung oberhalb des Spielfelds. Damit die Dachflächen zu ihrer Mitte hin nicht zu stark absacken und zudem gegen Wind- und Sogkräfte ausgesteift sind, sehen die Ingenieure Luftstützen und Querverspannungen vor. Deren Anordnung fällt bei den drei brasilianischen Stadien sehr unterschiedlich aus – erfreulicherweise, muss man sagen, denn die Stadion-Welt hat in der letzten Zeit wahrlich viele dieser zweifelsohne vorbildlich effizienten, sich gestalterisch aber letztlich doch stark ähnelnden Dachkonstruktionen gesehen.
Vergleichbar mit dem Aufbau eines Zirkuszelts werden Ringseildächer vor Ort »in einem Zug«, im Rahmen des sogenannten Big Lifts errichtet. Dabei werden die radialen Seilscharen – beim Stadion von Rio de Janeiro waren es entsprechend der Gebäudeachsen 60 Stück – zugleich angezogen und der zuvor auf dem Boden ausgelegte Druckring angehoben. Besonders heikel während dieses Vorgangs ist der dynamische Lastwechsel an den Luftstützen, bevor diese ihre vorgesehene Position einnehmen. Anschließend wurden die Seilkonstruktionen aller drei betreffenden brasilianischen Stadien segmentweise mit einer PTFE-Membran bedeckt. Das Material weist eine ausgesprochen glatte Oberfläche auf und ist dadurch wasserabweisend, schmutzresistent und fungizid.
Brasilia, Salvador da Bahia und Belo Horizonte
Mit einer effektiven Spannweite von 68 m zwischen Druck- und Zugring ist das Maracanã der Spitzenreiter unter den brasilianischen Sportstätten, aber auch die anderen beiden Arenen mit Ringseillösungen weisen besondere technische Qualitäten auf. So auch das neue Nationalstadion in Brasília: Das ursprünglich 1974 fertiggestellte Bauwerk stammt von Ícaro Castro Mello, dessen Sohn Eduardo nun für den neuen Unterrang und die Komplettierung des Oberrangs verantwortlich zeichnete. In enger Zusammenarbeit mit schlaich bergermann und partner errichteten die Hamburger Architekten von gmp eine umlaufende Kolonnade, auf die sie einen Druckring legten. Dieser bildet einen wesentlichen Teil des konzentrischen Hängedachs mit zweischaligem Tragwerk. Der tempelartig anmutende Gebäudering besteht aus 288, bis zu 59 m hohen Rundstützen aus ultrahochfestem Beton.
Der Entwurf für das Fonte-Nova-Stadion in Salvador da Bahia stammt von Schulitz Architekten aus Braunschweig. Seine besondere Qualität ist eine subtile optische Verzahnung mit dem direkten Umfeld. Auf hufeisenförmigem Grundriss öffnet sich der Baukörper nach Süden hin zu einem See, wodurch nicht nur eine beeindruckende Aussicht entsteht, sondern die Planer auch einen geschickten thermischen Effekt erzeugen. Denn die hitzige Begeisterung von 48 747 Zuschauern lässt Wärme aufsteigen und kühle Seeluft ins Innere des Baukörpers nachströmen. Darüber hinaus dient die Lücke im Tribünenring als Veranstaltungsbühne, etwa für Konzerte. Entsprechende Auf- und Abbauarbeiten beeinträchtigen den Regelbetrieb auf dem Spielfeld dabei nur wenig.
Erwähnen sollte man in diesem Zusammenhang noch den Umbau des Stadions von Belo Horizonte, das mit seiner durch Betonschotten gegliederten Fassade aus den 60er Jahren unter Denkmalschutz steht. Die Modernisierung wurde ebenfalls von gmp durchgeführt. Ursprünglich war auch ›
› für dieses Projekt eine vergleichbare Ringseilkonstruktion vorgesehen. Letztlich konnte sich aber der ausführende brasilianische Generalunternehmer mit einer Stahlrohrträgerkonstruktion durchsetzen, die zwar vermutlich kostengünstiger, dem Erscheinungsbild des Innenraums der Arena aber definitiv abträglich war.
Blüte am Amazonas
Manaus, die 2 Mio. Einwohner zählende Stadt am Amazonas, hat zwar keinen bedeutenden Fußballverein, jetzt aber ein Stadion für 42 374 Zuschauer: Im Kern ein vierseitiges Tribünenbauwerk, das ringsum von einer rautenförmigen Stahlkonstruktion umgeben ist, deren obere Spitzen bis an die Stadiontraufe reichen. Auf den Knotenpunkten dazwischen sitzen weitere Rauten, in deren Mitte die Traufe verläuft, an der sie um fast 90° nach innen abknicken und das Tribünendach bilden. Das gesamte äußere Stahltragwerk – sowohl die vertikalen als auch die horizontalen Bereiche – ist mit einer PTFE-Membran ausgefacht. Im Innern sind rote Stuhlreihen montiert, die nach oben in Orange- und Gelbtöne übergehen. Die Architekten – wiederum gmp in Zusammenarbeit mit schlaich bergermann und partner – beziehen sich mit ihrem Entwurf auf die Natur und die Früchte Amazoniens. Tatsächlich erinnert das Stadion an eine große Blüte.
Obligatorische Zeitknappheit
Das Stadion von São Paulo mag typisch sein für die »heiße Nadel«, mit der Brasilien seine Sportstätten »strickt«. Aber wie bei zurückliegenden internationalen Großveranstaltungen werden am Ende höchstwahrscheinlich auch sämtliche brasilianischen Stadien bespielbar sein, notfalls mit geschickt kaschierten Bauzäunen. Allein die Fertigstellung der entsprechenden Infrastruktur bereitet noch immer Kopfzerbrechen. So erschien z. B. Anfang März, als die Fotografien für diesen Beitrag entstanden, die Nutzbarkeit einer zum Stadion führenden Brücke in São Paulo noch in weiter Ferne. Auch in touristischer Hinsicht gab es noch Defizite. In Rio de Janeiro ließ sich beispielsweise kein Geldautomat finden, der eine EC-Karte akzeptierte.
Und nach dem grossen Turnier?
Die angedachte Nachnutzung einiger Stadien, insbesondere der Arena in Manaus, erscheint fragwürdig: Ein Ansatz sieht vor, Erstliga-Begegnungen großflächiger über das Land zu verteilen und dazu beide Mannschaften einzufliegen. Eine etwas skurril anmutende Idee – allerdings nur im ersten Moment. Denn das Maracanã-Stadion beispielsweise ist bereits Heimspielort von fünf Clubs; die Bewohner Rios sind quasi übersättigt mit hochkarätigen Begegnungen. Auch in Manaus leben zahlreiche Anhänger dieser Vereine, die gerne zu den Spielen kämen, aber keinen kostspieligen, vierstündigen Flug auf sich nehmen können oder wollen. In einem derart großen Land wie Brasilien wäre es also tatsächlich sinnvoll, die Mannschaften zu ihren Fans reisen zu lassen. •
Der Autor ist Architekt, Architekturfotograf und freier Autor. Er lebt und arbeitet in Aachen.
Übersicht über alle WM-Stadien in Brasilien:
  • Belo Horizonte – Estádio Mineirão Fassungsvermögen (WM): 62 547 Architekten (Umbau): gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Hamburg, mit Gustavo Penna Arquiteto e Associados, Belo Horizonte Tragwerksplaner (Umbau): schlaich bergermann und partner, Stuttgart
  • Brasília – Estádio Nacional Fassungsvermögen (WM): 70 064 Architekten: gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Hamburg, mit Castro Mello Arquitetos, São Paulo Tragwerksplaner: schlaich bergermann und partner, Stuttgart, Etalp, São Paulo
  • Cuiabá – Arena Pantanal Fassungsvermögen (WM): 42 968 Architekten: GCP Arquitetos, São Paulo
  • Curitiba – Arena da Baixada Fassungsvermögen (WM): 41 456 Architekten (Umbau): Carlos Arcos Arquite(c)tura, Montevideo (UY)
  • Fortaleza – Estádio Castelão Fassungsvermögen (WM): 64 846 Architekten (Umbau): Vigliecca & Associados, Rio de Janeiro / São Paulo
  • Manaus – Arena Amazônia Fassungsvermögen (WM): 42 374 Architekten: gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Hamburg, und schlaich bergermann und partner, Stuttgart, mit stadia, São Paulo Tragwerksplaner: schlaich bergermann und partner, Stuttgart
  • Natal – Estádio das Dunas Fassungsvermögen (WM): 42 086 Architekten: Populous, London (GB)
  • Porto Alegre – Estádio Beira-Rio Fassungsvermögen (WM): 48 849 Architekten (Umbau): Hype Studio, Porto Alegre, mit Santini & Rocha Arquitetos, Porto Alegre
  • Recife – Arena Pernambuco Fassungsvermögen (WM): 44 248 Architekten: fernandes / arquitetos associados, São Paulo
  • Rio de Janeiro – Estádio do Maracanã (Estádio Jornalista Mário Filho) Fassungsvermögen (WM): 76 804 Architekten (Umbau): fernandes / arquitetos associados, São Paulo Tragwerksplaner (Umbau): schlaich bergermann und partner, Stuttgart
  • Salvador da Bahia – Arena Fonte Nova Fassungsvermögen (WM): 48 747 Architekten: SCHULITZ Architekten, Braunschweig, mit Tetra Arquitetura, São Paulo Tragwerksplaner: RFR, Stuttgart / Paris (F)
  • São Paulo – Arena de São Paulo Fassungsvermögen (WM): 65 807 Architekten: Coutinho, Diegues, Cordeiro Arquitetos (CDCA), Rio de Janeiro Tragwerksplaner: WERNER SOBEK, Stuttgart
Bis zum 27. Juni ist im KutscherHaus, Berlin, die Ausstellung »Goool! – Stadien für die WM 2014 in Brasília – Belo Horizonte – Manaus« zu sehen.
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