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Wohnprojekt für Flüchtlinge und Studierende in Wien (A) tnE Architects

Interventionen fürs Miteinander
Wohnprojekt für Flüchtlinge und Studierende in Wien (A)

In Wien-Favoriten, nur wenige Straßenbahnhaltestellen vom neuen Hauptbahnhof entfernt, wurde ein sichtlich in die Jahre gekommenes Bürohaus aus den 80er Jahren zu einer hybriden Unterkunft für Flüchtlinge und Studierende umgebaut. Möglich gemacht wurde dies mit architektonisch einfachen, aber sozialpolitisch höchst raffinierten Interventionen in halbvorgefertigter Holzbauweise.

Architekten: tnE Architects; traudiwas mit Alexander Hagner
Kritik: Wojciech Czaja
Fotos: Petra Panna Nagy; Paul Kranzler
An die ersten Schritte muss man sich erst gewöhnen. Die Lifttüren und Stahlzargen sind bordeauxrot lackiert, die Gänge ziehen sich lang und düster dahin. »Die Ästhetik ist schon sehr Achtzigerjahre, oder? Wir hätten es selber nicht zu wagen geglaubt, aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Und eines Tages steht man plötzlich da und findet das alles sogar schön.« So berichten Petra Nagy, Sophie Höller, Sandra Großauer und Manfred Thallner. Sie studieren alle an der TU Wien und sind zwischen 24 und 28 Jahre alt. Sie sind Teil der insgesamt elf »Traudis«, die unter der Leitung des Wiener Architekten Alexander Hagner das gleichnamige Wohnprojekt »Traudi« ins Leben gerufen und schließlich aus der Taufe gehoben haben. Die Namensgebung ist insofern stimmig, als sich hinter dem eigenwilligen Titel nicht nur ein liebevoller Mädchenname verbirgt, sondern auch die Abkürzung für den Appell »Trau Dich!«. »Wir haben uns getraut«, sagen die vier Traudis. »Und so ist nach einigen Monaten ein Stück Architektur entstanden, das beweist, dass Bauen nicht nur mit Plänen zu tun hat, sondern auch mit zwischenmenschlichen Kontakten. Dieses Projekt ist ein Statement dafür, dass das Berufsbild des Architekten angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Umstände neu definiert werden muss.«
Da steht man also, vor einer der gewöhnungsbedürftigen, bordeauxfarben gesäumten Türen und hält die Kunststoffklinke in der Hand. In Anbetracht weiterer grausamer Ausstattungsdetails ringsherum ist man geneigt zu flüchten. Doch das wäre schade. Es würde einem das Bild eines dekonstruierten und völlig neu zusammengesetzten Raums vorenthalten, das sich hinter den unansehnlichen Türen auftut.
Traudi ist die Fortführung eines Projekts, das an fünf europäischen Universitäten parallel entwickelt wurde. Unter dem Titel »home not shelter« experimentierte man an den Universitäten in Wien, München, Berlin und Hannover, an der Jade Hochschule Oldenburg sowie bei der Hans-Sauer-Stiftung in München dazu, wie ein zum mitteleuropäischen Alltag komplementäres Flüchtlingswohnheim organisiert werden könnte. Die Suche nach einer Antwort darauf mündete in einem hybriden Flüchtlings- und Studentenheim, in dem die einen mit den anderen nicht nur unter einem Dach, sondern auch Tür an Tür wohnen.
Der soeben fertiggestellte Prototyp in Wien wird von der Caritas betrieben. Diese hat sich auf der 4. und 5. Etage des ehemaligen Siemens-Headquarters in Wien-Favoriten eingemietet. Das Bürohaus aus den 80er Jahren stand einige Zeit leer und wird nun geschossweise temporär als Wohnheim, Berufsfortbildungszentrum und Dependance einiger Fakultäten genutzt. Für die Dauer von drei Jahren soll das Experimentalhabitat, in dem Studierende mit Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und Somalia zusammen wohnen, als integratives Zwischennutzungsprojekt betrieben werden.
Trau Dich!
Jetzt endlich ist die Klinke gedrückt, und die Tür geht auf. Vor einem breitet sich ein Raum mit einer zentralen Vertiefung im Boden aus. Ein Teil des für Bürobauten typischen, mit Teppichfliesen belegten Doppelbodens wurde demontiert, was eine 32 cm tiefe Mulde entstehen lässt. Auch die abgehängte Decke wurde, wo es Brandschutz und Unterkonstruktion erlaubten, entfernt. In Teilbereichen führt das zu einer beachtlichen Raumhöhe von knapp 3 m. Zwischen Rohboden und -decke ist eine einfache Holzkonstruktion aus Fichte-Kanthölzern und Brettsperrholz eingespannt. Die Stöße sind effizient, die Detailknoten auf Anhieb zu verstehen, die Raffinesse liegt hier in der Reduktion auf das Wesentliche. Gearbeitet wurde mit Schrauben und einfachen Stahlwinkeln. »Unsere anfängliche Idee war es, die Räume, die wir zu bearbeiten hatten, mit einer ganz einfachen Holzbox zu bestücken«, sagt Alexander Hagner, der das Wiener Architekturbüro gaupenraub +/– leitet und das TU-Projekt in Wien betreut hat. »Stattdessen haben wir jedoch die Funktionen nicht im Innern der Box vorgesehen, sondern sie von innen nach außen verlegt.« Das Resultat ist eine nackte, asketische Installation, die wie eine Explosionszeichnung im Raum zu schweben scheint.
Wo die Doppelboden-Elemente entfernt wurden, befindet sich nun ein abgesenkter Raumteil mit rundumlaufender Sitzbank. Mit ein paar Sitz- und Lehnpolstern verwandelt sich die Vertiefung damit in eine gemütliche Sofalandschaft. Die Zwischenräume zwischen den 8 x 6 cm dicken Kanthölzern wurden mit Regalen, Schreibtischen, Zwischenpodesten, Kleiderstangen, Leitern und diversen selbstgezimmerten Einbauten ergänzt.
»Im Prinzip übergeben wir jeweils zwei oder drei Bewohnern einen fast leeren Raum mit bereits teildemontiertem Fußbodenaufbau und einer Grundkonstruktion aus vertikalen Kanthölzern, die mittels Hilfshölzern an der Betondecke und am Boden verschraubt sind«, erzählt eine Traudi. Und ja, sie bevorzugt es, mit dem Namenskollektiv zitiert zu werden. »Danach erarbeiten wir mit den künftigen Bewohnern die für sie passende Ausbau-Variante.« Ein Zimmermodell in Schuhkartongröße, in dem Möbelminiaturen hin- und hergeschoben sowie unterschiedlich gesteckt werden können, erleichtert die Kommunikation bei der Entwicklung der jeweils passenden Gestaltungsvariante.
Zusätzlich zu den Baumaterialien für Bett und Leiter bekommt jeder Zimmerbewohner eine gewisse Menge an Kanthölzern und Brettsperrholzplatten bereitgestellt. Damit kann der Ausbau, begleitet von einem der vor Ort befindlichen Traudis, individuell ergänzt werden. »Dadurch entsteht eine hohe Identifikation mit dem eigenen Zimmer«, sagt eine Projektleiterin. Trotz des rigiden Rasters der Basiskonstruktion, das sich am Achsmaß der Fenster und an der Tiefe der Zimmer orientiert, unterscheiden sich die so ausgebauten Räume stark voneinander. Mal sind die Betten etwas tiefer montiert, mal liegen sie nebeneinander, mal weit voneinander entfernt. In manchen Zimmern wurden die Trennelemente zwischen den Betten durch Vorhänge ersetzt. Mit den ungenutzten Holzplatten wurden stattdessen zusätzliche Ebenen eingezogen oder Nachtkästchen gebaut. Es ist eine Mischung aus Ordnung und Chaos.
Zwar habe man zu Beginn auch andere Materialien untersucht, aber letztlich habe sich die halbvorgefertigte Bauweise aus Holz nicht nur als die günstigste erwiesen, sondern auch als die sozialste im Sinne der Flexibilität und Individualität. Mitsamt Möbeln, Bauteildemontagen und baulichen Adaptierungsarbeiten im Bereich Elektro, Lüftung und Sanitär beläuft sich das Baubudget auf rund 400 Euro pro Bewohnerplatz. Mit diversen Spenden und so manch gebrauchtem Möbelstück aus dem Caritas-Lager wurde die Ausstattung ergänzt: Die Biedermeierkommoden im »Ikea- und Selfmade-Paradies« machen sich gut. Die Architekturästhetik bleibt eine eigenwillige und ist der Bricolage und Rauminstallation näher als dem klassischen Begriff des Innenausbaus.
Von den insgesamt 148 Wohn- und Schlafplätzen, die auf zwei Ebenen verteilt sind, wurden 43 Einheiten – verteilt auf 16 Zwei- und Drei-Bett-Zimmer – auf diese ungewöhnliche Weise realisiert. Das Gros ist klassisch traditionell möbliert mit einer Sachspende von Ikea im Wert von 150 000 Euro. In den Gangbereichen gibt es drei Interventionen, die im Rahmen einer Summer School von Studenten der TU Berlin errichtet wurden.
Ein kompakter Freund
Einige Räume wurden erst kürzlich mit zwölf vorgefertigten Holzmodulen des Wiener Architekturbüros The Next Enterprise bestückt. Ihr Name »Hawi« leitet sich von »Hawerer« ab, was der wienerische Ausdruck für Freund und Kumpel ist. Die Gestaltung von The Next Enterprise Architekten ist beinah das genaue Gegenteil von Traudi. Hawi ist ein in sich gekehrtes, in sich geschlossenes Raummodul, das als vorgefertigtes Element an Ort und Stelle geliefert wird und als hermetische Allrounder-Kiste in Gruppen im Raum aufgestellt wird. Im geschlossenen Zustand wirkt der »Freund« abweisend und hermetisch. Seine inneren Werte entfaltet Hawi erst mit dem allmählichen Öffnen des Raummöbels, mit dem Aufklappen der Fronten, der Seitenteile sowie eines integrierten Schreibtischs und Betts.
Das Standard-Maß beträgt 2,30 x 1,30 m. Die Innenhöhe der frei stehenden Objekte beläuft sich auf 2 m. Die Grundkonstruktion besteht aus handelsüblichen Aluminium-Stangenwarenprofilen, die Ausfachung und gleichzeitige Aussteifung übernehmen die darauf angebrachten Platten aus Brettsperrholz. Jedes Modul verfügt über eine eigene Lichtquelle und Stromversorgung.
»Unser Gedanke war, ein Raummöbel zu entwickeln, das man als vorgefertigtes Standard-Modul in jeden Raum, auf jede Art von Brachfläche stellen kann«, erklärt Marie-Thérèse Harnoncourt, die das Enterprise-Büro gemeinsam mit Ernst J. Fuchs leitet. »Nachdem wir in der Box vom Kleiderhaken bis zum Nachtisch-Lämpchen alles integriert haben, ist die gesamte Infrastruktur bereits Teil des Konzepts.« Anders als bei Traudi muss der umgebende Raum also weder technisch adaptiert noch ästhetisch aufgerüstet werden. »Es ist ein Raum im Raum«, so Harnoncourt. »Draußen kann Staub und Brache sein. Die Heimat findet ohnedies drinnen statt.«
Hawi von The Next Enterprise wird ebenfalls von der Caritas mitbetreut und dient wie Traudi als temporäres Wohnheim für Studierende und Flüchtlinge und ist zudem Teil des österreichischen Biennale-Beitrags »Orte für Menschen«. Unter der Hoheit der Biennale-Kommissärin Elke Delugan-Meissl von Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) wurden in drei Wiener Flüchtlingseinrichtungen temporäre räumliche Interventionen vorgenommen. Die zwei Hawi-Prototypen waren bereits zu Beginn der Architektur-Biennale 2016 fertiggestellt. Nun sind sie in zwölffacher Ausfertigung Teil des temporären Caritas-Wohnheims für Flüchtlinge und Studierende.
Letztlich ist es den individuellen Vorlieben des jeweiligen Bewohners geschuldet, bei welcher Zimmertypologie die Kombination aus modularer Effizienz und Privatsphäre als besser geglückt empfunden wird. Im Bereich der Wohnlichkeit geht der Punkt auf jeden Fall an die langweiligen, aber gemütlichen Ikea-Zimmer. Die Traudi- und Hawi-Habitate punkten dafür mit dem auf jedem Quadratzentimeter spürbaren Neulandgefühl.
Den Pritzker-Preis werden sie dafür aber dennoch nicht bekommen. »Es ist ein Experiment«, sagen Hagner und Harnoncourt. »Wir wollten herausfinden, wie viel Privat- und Intimsphäre mit wie wenigen Mitteln machbar ist. So gesehen ist dieses Projekt ein Bekenntnis zur Entdeckung und Entwicklung der sozialen Komponente von Gestaltung.«
Wie sagt doch die deutsche Soziologin Yana Milev? »Gerade in schwierigen Lebenslagen wie etwa in Zeiten der Flucht und Neuorientierung ist es wichtig, den Menschen Handlungsspielräume für kulturelle Codes und kollektive Rituale zu eröffnen. Die Pflege der Kultur, der Kontakt zu außenstehenden Menschen und die Aufrechterhaltung eines gewissen Wohnalltags macht die Menschen nach ihren Traumata und langen Strapazen psychisch immun.« Milevs Worte lassen einen hehren Anspruch an die Architektur erkennen. Mit den Interventionen im ehemaligen Verwaltungsgebäude in Wien hat man den Versuch gewagt, dieser komplexen Vision näherzukommen.

Wohnprojekt für Flüchtlinge und Studierende Hawi
Standort: Kempelengasse 1 (4.+5. Stock), A-1100 Wien

Auftraggeber: Orte für Menschen im Rahmen der Architektur-Biennale in Venedig/IT, 2016; Kuratoren: Elke Delugan-Meissl (Delugan Meissl Associated Architects), Sabine Dreher und Christian Muhr (Liquid Frontiers)
Auftraggeber Innenraum: Caritas der Erzdiozöse WienAuftraggeber
Auftraggeber Außenraum: SOWE 11 Immobilienverwertung, Wien
Architekten: tnE Architects, harnoncourt, fuchs & partner, Wien
Anzahl der Bewohner bzw. Moduleinheiten: 140 Bewohner davon 70 Studierende und 70 jugendliche Flüchtlinge; 45 Personen in 30 Wohngemeinschaften unbetreuter minderjähriger Flüchtlinge, 95 Personen im Studentenwohnheim
Fläche pro Person: ca. 12 m² BGF
Größe und Belegungsart der Wohnungen: Hawi (Schlafmodule): 3-4 Personen auf 39-64 m²; Traudi (home not shelter / TU Wien): 2-3 Personen auf 19-28 m²; Zimmer UMF (unbetreute minderjährige Flüchtlinge): 23 Personen auf 25-38 m²
Gemeinschaftsräume: gesamt: 800 m² davon UMF 140 m² und Studierende und Nachbetreute: 660 m²
Außenanlagen Kempelenpark: 5 180 m², davon 400 m²
Fertigstellung der Intervention im Außenraum: Juni 2016
Fertigstellung der Intervention Hawi im Innenraum: Dezember 2016
Teilprojekt: Traudi
Architekten: traudiwas (Planung und Umsetzung) mit Alexander Hagner (Betreuung seitens der Universität)
Mitarbeiter: Madlen Borissova, Pieter De Cuyper, Sandra Großauer, Sophie Höller, Kristina Koller, Anita Laukart, Bernhard Roberto Luritzhofer, Petra Panna Nagy, Manfred Thallner, Johanna Waldhör, Ulla Zinganell
Bauzeit: Juli bis November 2016

Unser Kritiker Wojciech Czaja hat Angst vor den 80er Jahren. Doch mit dem ungewöhnlichen, dekonstruktiven Ansatz im Caritas-Wohnheim, so meint er, wurden ihm die größten Phobien genommen. Übrig bleibt ein Bild von Werkstatt, Harzgeruch und Holzspielzeug für Erwachsene.

tnE Architects – the next ENTERprise


Marie-Therese Harnoncourt
1967 in Graz geboren. Studium an der Universität für angewandte Kunst Wien, 1993 Diplom. Ab 1991 Büro mit Florian Haydn und Ernst J. Fuchs, seit 2000 mit Ernst J. Fuchs. Lehraufträge in Wien Linz (A).
Ernst J. Fuchs
1985-88 Studium an der Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz (A), 1988-94 an der Universität für angewandte Kunst Wien. Ab 1991 Büro mit Florian Haydn und Marie-Therese Harnoncourt, seit 2000 tnE Architects. Lehraufträge in Innsbruck, Wien, Linz und der Kunstakademie Bratislava (SK).
Traudi / Home not Shelter!
Madlen Borissova, Pieter De Cuyper, Sandra Großauer, Sophie Höller, Kristina Koller, Anita Laukart, Berhard Roberto Luritzhofer, Petra Panna Nagy, Manfred Thallner, Johanna Waldhör, Ulla Zinganell
Alexander Hagner

1963 in Bad Wimpfen geboren. Studium an der Universität für angewandte Kunst Wien, 1995 Diplom. 1999 Gründung von gaupenraub+/- mit Ulrike Schartner. 2015-16 Gastprofessur an der TU Wien. Seit 2016 Professur für Soziales Bauen an der FH Kärnten.


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