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Forschungscampus Stuttgart-Vaihingen braucht Pflege

Bildung | Erziehung
… in die Jahre gekommen: Forschungscampus Stuttgart-Vaihingen

Über die Jahrzehnte entwickelte sich das Gelände am Waldrand zu einem gewaltigen Forschungscluster aus Universität, Medienhochschule und unabhängigen Forschungsinstituten. Unter der Ägide des Universitätsbauamts entstanden immer wieder und entstehen auch weiterhin architektonische Highlights, die allerdings wegen ihres in der öffentlichen Wahrnehmung wenig präsenten Standorts kaum Wertschätzung erfahren. Neue Impulse verspricht ein Masterplan, dessen erste Varianten derzeit diskutiert werden. Nun kommt es darauf an, wie weit oder eng gefasst die verschiedenen Akteure den Begriff »zukunftsfähig« definieren.

Forschungscampus Stuttgart-Vaihingen

Architekten: Universitätsbauamt Stuttgart und Hohenheim
Kritik: Ursula BausFotos: Universitätsbauamt, Andreas Körner, Ursula Baus, Brigida Gonzalez u. a.
Ab 1957
So machte man das in der frühen Nachkriegszeit. Man schaute in die USA und orientierte sich auch beim Neuaufbau von Universitäten am amerikanischen Modell. Der Campus als Terrain der akademischen Eliten nahm in Zeiten, als die geburtenstarken Jahrgänge an die Universitäten drängten, gewaltige Ausmaße an. In Stuttgart lag es auch aufgrund der Topografie nahe, v. a. die flächenfressenden natur- und technikwissenschaftlichen Fakultäten mit Werkstätten und Laboren aus der Stadtmitte auszulagern. Im südwestlich gelegenen Stadtteil Vaihingen wurde Wald gerodet und auf preisgünstigem Grund Platz für erwartete 350 000 m² Nettonutzfläche geschaffen. Die Fachzeitschrift »Baumeister« pries 1967 die Verkehrsanbindung der »neuen Hochschulstadt« – mit Autobahnkreuz, Bundesstraße und einer zu erwartenden, letztlich erst 1985 in Betrieb genommenen S-Bahn-Haltestelle. Heute studieren auf dem rund 167 ha umfassenden Campus etwa 19 000 Studenten, Tendenz fallend. Über Jahrzehnte entstanden auf dem Gelände, das mit den beiden Ringstraßen Allmandring und Pfaffenwaldring sowie einigen Stichstraßen in den Fußgängerbereichen erschlossen ist, ›
› Grundtypen mit gestapelten Büroräumen und flachen Hallen für Labore und Werkstätten – aber auch Highlights der Architektur: Frei Otto baute 1967-68 das legendäre Institut für leichte Flächentragwerke (IL), Atelier 5 das Hörsaalzentrum mit Mensa und ein Studentenwohnheim mit kleinteiligen, wohnlichen Einheiten (1972-76). Behnisch und Partner feierten 1987-88 im Hysolar-Institut das Spielerische, dessen ungeplante Anmutung die Rolle des Zufalls in der Forschung erkennen ließ. Das Universitätsbauamt selbst steuerte u. a. mit Friedrich Wagner und Michael Held bemerkenswerte Architektur bei.
Zukunftsfähig?
Achtet man bei einem Besuch heute darauf, wie Architektur und öffentlicher Raum zusammenwirken, springen Missstände ins Auge. Über den reinen Naturwissenschafts- und Technik-Campus schwappt täglich eine Autoflut und trägt dazu bei, dass die öffentlichen Räume verwahrlosen. Es ist nicht so, dass die lockere Campus-Arrondierung ihren Reiz verloren hätte, aber die Pflege lässt zu wünschen übrig, jedes Stück unbebauter Fläche scheint als Abstellfläche für Autos oder Container, Fahrräder oder auch Müll missbraucht zu werden. Es machten sich in den letzten Jahren auch privatwirtschaftliche, forschungsnahe Einrichtungen wie das Max-Planck-Institut, das Fraunhofer Institut oder das DLR (Zentrum für Luft- und Raumfahrtechnik) breit – der nahegelegene, raumgreifende »Stuttgarter Engineeringpark« STEP wirbt mit dem Slogan »kurze Wege zwischen Ideen und Produkten«. So war es ›
› höchste Zeit, dass seitens des Landes die Entwicklung des Campus für die nächsten Jahrzehnte mit Analysen und Bedarfsermittlungen thematisiert wurde. Der Run auf Wissenschaftler mutiert seit einigen Jahren zu einem weltweiten Konkurrenzkampf v. a. jener Standorte, die – wie der Raum Stuttgart – einen Strukturwandel zu befürchten haben. Was, wenn die Auto-Industrie die Zeichen der Zeit nicht erkennt und unternehmerisch versagt? Was, wenn die Zulieferindustrie ins Straucheln gerät?
Analysen und Ideen
Am Städtebaulichen Institut der Universität Stuttgart (SI) wurde nun mit Workshops und Symposien ein Planungsprozess gesteuert, der in einem »Masterplan Campus 2030« enden soll. Zwar sinken die Studentenzahlen in den technischen Fächern, es wächst aber der Bedarf an Forschungsflächen. Allein schon vom Fraunhofer-Institut IPA ist zu hören, dass es jährlich um 10-15 % wächst und beständig unter Platzmangel leide.
Der Campus als ganzer kann nicht ausgeweitet werden, weil er von Landschaftsschutz- und Wohngebieten sowie sakrosankten Straßen umgeben ist. So muss umgebaut und nachverdichtet werden, wobei eine funktionale Aufwertung des Uni-Geländes unerlässlich ist, wenn Forschungskoryphäen und Wissenschaftsnomaden aus aller Welt ein adäquates Umfeld finden sollen. Dazu entwickelte das Team des SI unterschiedliche Szenarien, die mit Teilnehmern verschiedener Interessenslagen – Universität, Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Studentenschaft – diskutiert wurden und noch werden. Zur Diskussion standen drei Konzepte: Das Szenario »Campus als Stadt« sieht ein weitgehend rechtwinkliges, »urbanes Netz« vor, bei Abriss, Neubau und funktionaler Umstrukturierung vorhandener Institute soll den (dann halböffentlichen) EGs eine wesentliche Rolle zukommen. »Urbane Plätze« und Straßen orientieren sich in diesem Szenario an der sogenannten »europäischen Stadt«.
Moderater wirkt der Wandel im Konzept »Campus als Boulevard«, in dem die ortstypische Erschließung durch Allmand- und Pfaffenwaldring im Sinne von »Ringboulevards« umfunktioniert werden soll. An diesen »Boulevards« ließen sich Gastronomie und Einzelhandel ergänzen, außerdem eine bessere Orientierung erarbeiten.
Schließlich sieht das Modell »Campus kompakt und durchgrünt« vor, die »Parklandschaft« mit klar strukturierten »Clustern« fortzuschreiben und funktional zu ergänzen.
Derzeit wird an der erstgenannten Variante »Campus als Stadt« weitergestrickt. Schwer verständlich ist, dass der wichtige Aspekt »Mobilität« nicht etwa am Anfang des Planungsprozesses thematisiert wurde, sondern erst demnächst ansteht. Die größten Nachverdichtungspotenziale bieten auf dem Campus die riesigen Parkplätze, für die nach alter Väter Sitte nun Parkhäuser gebaut werden sollen.
Anmerkungen
Es muss hier eine kritische Einschätzung erlaubt sein, die an zwei Themen ansetzt: Mobilität und Urbanität. De facto erweist sich gegenwärtig die konventionelle (Auto-)Mobilität, unter welcher der Campus besonders leidet, als eine Fehlentwicklung, die korrigiert werden muss – streiten darf man gern darüber, wie. Interne Wege und der Anschluss an den ÖPNV sowie den Fernverkehr ließen sich zugunsten der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum des Campus enorm verbessern. Hier einen Modell-Versuch zu starten, wäre ein gutes Signal dafür, dass Baden-Württembergs Hauptindustriezweig in die Pflicht genommen wird und erkennt, worauf es in Zukunft ankommt.
Daneben stellt sich – wie weltweit bei der Entwicklung nahezu aller Hochschulstandorte – die Frage, was denn welche Forscher an »Urbanität« wünschen. Um ins nahe Heidelberg zu schauen, wo Natur- und Technikwissenschaftler ihre »Exzellenz« nicht ohne eine gewisse Arroganz in die Waagschale für Planungsentscheidungen werfen: Ja, sie arbeiten viel, Wissenschaftler haben eine »entgrenzte Lebensweise«, weil sie auch bis Mitternacht arbeiten – so Walter Siebel Anfang März in einer Radio-Diskussion zur Wissenschafts-IBA in Heidelberg. Und möchten gern abends um 23 Uhr noch einkaufen oder sich beim Essen treffen. Nebenbei: Das impliziert, dass auch Verkäufer und Köche um diese Zeit noch arbeiten. Die (MINT)-Wissenschaftler bleiben aber gern unter sich. Als ich den Vaihinger Campus ›
› kürzlich besuchte, saß ich in einem typischen Uni-Café, wo am Nachbartisch ein paar Assistenten miteinander sprachen – über irgendetwas mit Halbleitern. Da fragte ich forsch, wie ihnen denn das Café hier gefalle? »Weiß nicht« – Achselzucken. Na dann.
Es fehlt auf dem Campus sicher ein passabler Supermarkt, zwei Mal wöchentlich Markt wäre auch gut. Mehr Zugang und Leben in den EGs könnte dazu beitragen, dass mehr auf die Pflege des Freiraums geachtet wird und die Begegnung mit Mitmenschen in einer angenehmen Atmosphäre den Alltag aufwertet. Aber »urban« wäre es hier erst, wenn wenigstens Geisteswissenschaftler oder Künstler mit anderem Erkenntnisinteresse und Lebensentwürfen angesiedelt wären – als Störfaktoren und Menschen, die das geistige Umfeld bereichern. Ein konventionelles Rechtecknetz über dem Campus lässt in dem fragwürdigen Konstrukt, das als »europäische Stadt« gehandelt wird, auch befürchten, dass eine 0815-Raster-Architektur folgt. Solche formalen Ansätze erschöpfen sich rasch und zerstören hier konkret die Vielfalt des öffentlichen Raums, den es auf dem Vaihinger Campus – noch – wiederzuentdecken gibt. Man stelle sich nur mal vor, Frei Ottos IL stehe auf einem rechteckigen Platz wie auf einem Präsentierteller und nicht eingebettet in eine offene, grüne Umgebung: eine Musealisierung, die ins Lächerliche abglitte. Noch hat der Uni-Campus einen Charakter, der ihn einzigartig macht. Der ließe sich stärken, ergänzen – Campus ist nun einmal nicht Stadt, und »europäische Stadt«. Rothenburg ob der Tauber oder Rotterdam – Bochum oder Bologna: Wenn die Baugeschichte eines lehrt, dann dass eine pauschale Epochenverteufelung immer baukulturellen Schaden anrichtete.

  • Standort: Universitätsstraße, 70569 Stuttgart

    Bauherr: Land Baden-Württemberg, vertreten durch Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Universitätsbauamt Stuttgart und Hohenheim, Stuttgart
    städtebauliche Planung: SI Städtebau-Institut der Universität Stuttgart;pp a|s pesch partner architekten stadtplaner, Dortmund/Stuttgart

40372987

Unsere Kritikerin Ursula Baus hatte bei ihrer Begehung des Campusgeländes in Stuttgart-Vaihingen einen windigen, regnerischen Tag erwischt und sich überlegt, dass sie ihr gezaustes Erscheinungsbild dem Leser nur indirekt zumuten könne.

… in die Jahre gekommen (S. 56)
Ursula Baus
Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie in Saarbrücken. Architekturstudium in Stuttgart und Paris. Promotion. 1989-2004 Redakteurin der db, seit 2004 frei04-publizistik mit Christian Holl und Claudia Siegele. 2004-10 Lehraufträge in Biberach und Stuttgart. 2007-12 im Beirat der Bundesstiftung Baukultur, seit 2010 im wissenschaftlichen Kuratorium der IBA Basel 2020. Seit 2017 Mitherausgeberin des Magazins www.marlowes.de.
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