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Hochschulzentrum »ARTEM« in Nancy (F)

Im Jugendstil
Hochschulzentrum »ARTEM« in Nancy (F)

Formal vielfältig, bunt und offen gestaltet erscheint der Campus der neuen Hochschule, die nach einem fächerübergreifenden Konzept arbeitet. Ausdrücklich nicht als akademisches Ghetto konzipiert, sondern als Stadtquartier, spielt in diesem Fall auch die (Bau-)Kultur, die hier mit dem Jugendstil ihren Höhepunkt erreicht hatte, eine Rolle. Doch derzeit durchkreuzt die gesellschaftliche Realität, was die Architektur anbietet.

Im Jugendstil

Architekten: ANMA Nicolas Michelin; Lipsky + Rollet; Dietrich | Untertrifaller
Ingenieurleistungen: Elioth, u. a.
Kritik: Wolfgang Bachmann
Fotos: Stéphane Chalmeau, Julien Lanoo, Bruno Klomfar
 
Wenn man in diesen Wochen die französische Grenze überquert, fragt man sich, ob das in Zukunft noch so einfach möglich sein wird, falls Marine Le Pen tatsächlich zur Staatspräsidentin gewählt werden sollte. Noch können wir die Autobahnmaut in Euro bezahlen. Unser Ziel ist Nancy, dort die neue Hochschule ARTEM, die durch ihr interdisziplinäres Konzept und eine affirmativ offene Architekturkonzeption auch als Beispiel für eine multikulturelle Auseinandersetzung betrachtet werden kann.
 
Getragen wird die neu gegründete Institution von drei bestehenden Hochschulen, die hier in kooperierenden Studiengängen der Kunst, Technik und Unternehmensführung kreative und ökonomische Talente fördern sollen. Die Stadt will damit an die legendäre Ecole de Nancy anknüpfen, mit der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine prosperierende Epoche begann. Im Mittelpunkt des Art Nouveau stand Emile Gallé, er gilt bis heute als bedeutendster Glasmacher und Designer, der mit Künstlern, Handwerkern und Industriellen für eine Furore des Jugendstils sorgte.

Auf der Suche nach Kontinuität

Der Ort und die Bestimmung der neuen Hochschule sind also von Erwartungen getränkt, die genau 100 Jahre nach der Gründung der Ecole de Nancy im Konzept von ARTEM niedergelegt wurden. In dem 2006 ausgelobten internationalen Wettbewerb konnte sich Nicolas Michelin mit seinem Büro ANMA gegen prominente Kollegen durchsetzen. Sein Entwurf für das innenstadtnahe Militärareal sicherte ihm nicht nur den Auftrag für die ersten Bauabschnitte, die Ingenieurschule ENSMN und das angeschlossene Forschungsinstitut Jean Lamour, sondern auch die Regie des gesamten Projekts, für das ein Masterplan minutiös Struktur und Kubatur der weiteren Gebäude vorwegnahm.
 
Auf dem Grundstück wurden zwei der alten Kasernen abgerissen. Die Hochschulbauten sollten die vorhandenen Verkehrswege zum östlich anschließenden Wohnquartier aufnehmen und den von Plätzen und Blockinnenräumen geprägten Städtebau fortsetzen. Auch die Höhe der neuen Gebäude würde mit maximal fünf Geschossen dem Maßstab der Umgebung entsprechen. Außerdem sollten eine ungenierte Farbenfreude und von der rechtwinkligen Ordnung abweichende Formen die Baukultur des Jugendstils interpretieren. Um diesen Anspruch würdigen zu können, muss man sehen, dass das alte Zentrum von Nancy in den letzten Jahrzehnten geradezu gewalttätig mit (inzwischen heruntergekommenen) maßstabslosen Neubauten verunstaltet wurde. Die Stadt mit 106 000 Einwohnern (und 46 000 Studenten) besitzt prächtige Vorzeigeorte wie die Place Stanislas, aber neben diesen Ensembles gibt es Straßen, die aussehen wie Ost-Berlin vor der Wende. Auch mit dem allgegenwärtigen Jugendstil gingen viele Bauherren nicht immer pfleglich um, man entdeckt PVC-Fenster aus dem Baumarkt in den staubgrauen Denkmälern.

Sehnsucht nach dem öffentlichen Raum

Jetzt also alles neu! Mit einer großen Geste will Nicolas Michelin die Bevölkerung und den akademischen Nachwuchs zusammenbringen. Entlang der von Südosten nach Nordwesten führenden Rue du Sergent Blandan verbindet eine 300 m lange gläserne Passage die einzelnen Institute und Fakultäten. Weiße Stahlrohre bilden das Tragwerk, das an seinen Fassaden mit versetzten flachen Giebeln abschließt. Mit jeweils vier dreieckigen rosarot oder hellblau getönten Glasfeldern wird die Dachgeometrie über die Diagonale gelöst. Zur Place de Padoue wächst die Galerie zu einem überhohen Glassturz. Wo es Querverbindungen zu den Straßen gibt, unterbrechen Durchgänge unter markanten Spitzdächern die Passage. Man könnte sich vorstellen, dass die polygonen Formen den floralen Jugendstil in die Räson des Ingenieurbaus übertragen. Auf dem Boden glänzt ein marmorierter Zementestrich, die längsseits angelegten Pflanzbeete werden von den Lehnen langer Steinbänke gesäumt. Für die Temperierung sorgen »puits canadiens« (Luft-Erdwärmetauscher), die ganzjährig eine angenehme Ventilation liefern.

Unter Verschluss

Diesem neuen städtebaulichen Element wurden in der weiteren Wettbewerbsausschreibung große Qualitäten als öffentlicher Raum suggeriert; es wurde sogar überlegt, die Passage um weitere 400 m bis zum Badkomplex Nancy-Thermal zu verlängern. Man darf allerdings skeptisch sein, ob sich die Anwohner wirklich unter die akademische Bohème mischen werden, denn die Galerie ist zwar ein wunderbarer, nicht kommerzieller Ort. Doch die eingestellten Blechhäuschen sind keine Kioske, sondern umschließen Haustechnik und Tiefgaragenzugänge. Ob sich deshalb in den leeren Glashäusern Mütter mit spielenden Kindern und Rentner mit Rollator aufhalten möchten oder die Galerie wenigstens witterungsfreundlich einen notwendigen Weg verkürzt? Wenn hier nichts stattfindet, wenn es »nichts gibt«, spricht das Angebot nur gutbürgerliche Kreise an. Dösende Männer mit Bierdosen würden bestimmt nicht geduldet. Das alles bleibt jedoch Spekulation, denn seit den Terroranschlägen ist die einladende Passage hermetisch verschlossen. Nur wer hier arbeitet, darf sie benutzen.
Das Regulative setzt sich auf dem Campus fort. Hinter zwei Stirnbauten schließt das riesige, endlos wirkende Materialforschungsinstitut Jean Lamour mit einer ondulierten finstergrünen Blechfassade an (Architekten: ANMA). Der Hauptzugang liegt zwischen den beiden mit beige- und ockerfarbenen Blechkassetten bekleideten Häusern, deren Glätte bereits abweisend wirkt. Tatsächlich ist der gesamte Komplex verschlossen, 450 Forscher sind hier bei der Arbeit, und selbst in friedlichen Zeiten darf sich zu ihnen niemand verirren.
 
Unter den Glashütchen der Galerie führen jeweils schmale Gassen zwischen den einzelnen Hochschulgebäuden in einen Gartenhof der sich hinter und unter den brückenartig verbundenen Gebäudeteilen ausbreitet. Die Eingänge lassen sich als Schwellen lesen, stabile Gitter und Tore, die nach 23 Uhr verschlossen werden, signalisieren auch bei Tag, dass man hier nur geduldet wird und mit den jungen Menschen, die hinter den bunten Fassaden wirken und werkeln, nichts zu tun hat.
Die Landschaft bettet sich in weichen Wellen um die Architektur, Rigolen, Senken und Rinnen sammeln und leiten das Regenwasser, das in Zisternen gesammelt und zur Bewässerung verwendet wird, einige stabile Liegen deuten Erholung an. Noch wirkt es wie die Inszenierung eines Kurparks, als sollten die Studenten nur flanieren und sich alles brav ansehen.

Architekten miteinander und nebeneinander

Als erstes von den verschiedenen Gebäuden wurde 2012 die Ingenieurschule (ENSMN) von ANMA fertig. Ihr Hauptzugang hinter der Galerie empfängt mit einem Foyer, in dessen Mitte eine leicht gekrümmte Treppe die OGs unter einem lichten Glasdach erschließt. Es ist ein zentraler Galerieraum mit hellen Holzstufen. Ansonsten merkt man sich die Farbe Blau, die das Grün im EG fortsetzt. Auf jeder Ebene changiert die Tönung ein wenig kräftiger und heller. In die Tiefe führt eine schmale Gebäudebrücke, die beidseitig von Seminarräumen begleitet wird. Der Flur weitet sich zu Sitznischen, am Ende erreicht man wieder ein breiteres Bauwerk, das in Orangerot getaucht ist. Die Raumwinkel sind uneindeutig, ebenso die Farben, immer wieder hat eine künstlerische Hand etwas Ornamentales über Türen und Wände gemalt. Das grobe Mobiliar wirkt strapazierfähig, es wurde sicher nicht vom Architekten ausgesucht. Überhaupt spürt man unwillkürlich, dass man sich im Ausland befindet – alle Details, Anschlüsse, Materialien folgen einer ungewohnten Ästhetik.
Die Außenfassade ist mit diagonal gerasterten Blechkassetten in unterschiedlichen Farben bekleidet. Dunkelrot steht südlich daneben das mit keramischen Platten verschalte Haus der Sprachen, an das ein schmales »Amphitheater« – eigentlich nur ein Keil mit Sitzstufen anschließt.
Die künftige Mitte des Campus bilden mit ihren silbrig glänzenden Blechpaneelen die Schule für Management und eine Mediathek, die ihrer Eröffnung entgegensehen. Architekten sind Lipsky-Rollet aus Paris.
 
2016 fertiggestellt wurde die Kunsthochschule von Dietrich | Untertrifaller und Christian Zomeno. Wie Dioskuren stehen ihre beiden funktional verbundenen Baukörper fast parallel nebeneinander. Das höhere, prismatisch gefaltete Haus fungiert als »Signalgebäude«, eine identifizierbare Vorgabe des Masterplans für alle Baugruppen, was jedoch nicht sehr auffällt. Es ist mit gekantetem dunklem Lochblech bekleidet, in dem unregelmäßige Öffnungen ausgespart sind; das nördlich den Uni-Parcours abschließende geradlinige Haus hat eine Fassade aus schwarzen glasfaserverstärkten Tafeln, die von unterschiedlich tiefen Fenstervitrinen unterbrochen werden. Dass die Hochschule als Betonkonstruktion errichtet wurde, zeigt sich in den scharfkantig geschalten Innenräumen, mit deren Sichtqualität die Franzosen jedoch ihre Mühe hatten.

Campus ARTEM

In beiden Häusern sind die Ateliers, Werkstätten, Studios und Büroflächen um eine Funktionsachse organisiert. Hier werden kreative Produktion und publikumsnahe Präsentation gelehrt. Die bis zu 4,50 m hohen Räume sind beeindruckend ausgestattet, ein Bataillon Apple-Rechner gehört ebenso dazu wie ein solider Maschinenpark für alle denkbaren Handwerke. Der Ausbau reduziert sich auf wenige Materialien und Farben: Zementestrich, auch mal Riemchenparkett über der Fußbodenheizung, roher Stahl als Treppenwangen, HWL-Platten an den Decken. Vor den mit massivem Kreuzlagenholz ausgeschlagenen tiefen Fensternischen im Nordbau bauschen sich farbige Filzvorhänge (hinter denen müde Studenten auch mal ihre Schlafkojen einrichten). Die Architektur gibt den Künstlern einen neutralen Hintergrund, doch bleibt sie immer präsent. Die akkurat in den Betonwänden platzierten Installationen oder die mit Schattenfugen abgesetzten Eichenholzlaibungen setzen Maßstäbe. Höhepunkt sind die unter dem Dach liegenden großen Ateliers mit ihren lichten Streckmetalldecken. Zur Gartenseite verbindet ein Hörsaaltrichter die beiden Gebäude, die um die »Villa Artem« ergänzt werden sollen, ein Institut für ein projektbezogenes praxisnahes Aufbaustudium im Kontakt mit Unternehmen. Im Bau ist die Mensa.
Ganz im Süden an der noch unfertigen Place de Padoue blieb auf dem ehemaligen Kasernenhof das Denkmal des 1842 in Algerien gefallenen Sergent Blandan stehen. Er war im Alter der jungen Leute, die hier studieren. Mit seinem aufgepflanzten Bajonett sieht der tapfere Soldat auf die gläserne Galerie. Er kann sie nicht schützen. Drum ist die Schule verriegelt, das Leben bleibt draußen.

  • Standort: Campus ARTEM, Rue Sergent Blandan, F-54000 Nancy

    Bauherr: Métropole du Grand Nancy, Mitträgerschaft: Französische Republik, Europäische Kommission (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung), Département Meurthe-et-Moselle, Region Grand Est;vertreten durch Solorem (Société Lorraine d’économie Mixte)
    Masterplan: ANMA Agence Nicolas Michelin & Associés, Paris, mit Agence de Paysage Claire Alliod, Nancy
    Ingenieurleistungen: Elioth, Bureau d’Études, Montreuil
    Gesamtfläche: 97 000 m²
    Nutzfläche: 75 000 m²
    Gesamtkosten: 244,78 Mio. Euro (davon Inst. Jean Lamour 112,18 Mio. Euro)
    Bauzeit: November 2009 bis Juni 2017
    Masterplan + ARTEM 1: Ingenieurhochschule, Zweigstelle INERIS (Institut National de l’Environnement Industriel et des Risques), Haus der Sprachen und Kulturen, 2 Hörsäle, Empfangsbereich, Gemeinschaftsflächen; Institut Jean Lamour
    Architekten: ANMA Agence Nicolas Michelin & Associés, Paris
    Nutzfläche: 18 500 m²
    Baukosten: 42,05 Mio. Euro (mit Baugrund), netto: 23,5 Mio. Euro
    Bauzeit: November 2009 bis Juni 2012; Endbezug Institut Jean Lamour: 2017
    ARTEM 2: Staatliche Hochschule für Kunst und Design (ENSAD)
    Architekten: Dietrich | Untertrifaller Architekten, Bregenz/Wien, mit Atelier d’Architecture Christian Zoméno, Vandœuvre-lès-Nancy
    Projektleitung: Andreas Laimer, Dimitri Grzanka
    Nutzfläche: 7 854 m² oberirdisch, 2 874 m² unterirdisch
    Baukosten: 12,85 Mio. Euro (netto; mit Baugrund: 22,75 Mio. Euro)
    Bauzeit: Oktober 2013 bis August 2016, Eröffnung: Oktober 2016
    ARTEM 3: ICN Business School, ISAM (Institut Supérieur d’Administration et de Management-IAE), Mediathek, 2 Hörsäle, Haus der Studenten
    Architekten: Lipsky + Rollet Architectes, Paris
    Nutzfläche: 13 574 m²
    Baukosten: 37,8 Mio. Euro
    Bauzeit: September 2015 bis März 2017

Er glaubt nur Selbstgeschriebenes: Der Kritiker Wolfgang Bachmann ließ sich drei Stunden durch die neuen Hochschulen im lothringischen Nancy führen, hat alles gewissenhaft in seinem Moleskin-Büchlein notiert – und schließlich vergessen, ein Zielfoto zu machen.

~>Wolfgang Bachmann
1951 geboren. Architekturstudium, Büropraxis. Redakteur der Bauwelt in Berlin, 1991-2011 Chefredakteur des Baumeister in München, 2011-13 dessen Herausgeber. Juryteilnahmen, Moderationen, Vorträge und Kritiken, Glossen und Kurzgeschichten.

ANMA


Nicolas Michelin
1955 in Paris geboren. Gründung von LABFAC mit Finn Geipel. 2000 Gründung von ANMA mit Michel Delplace und Cyril Trétout. Bis 2009 Direktor der ENSA Versailles, 2000-09 Entwicklung des Kunstzentrums »La Meréchalerie«. Publiktationen, Ausstellungen.

Dietrich | Untertrifaller


Helmut Dietrich
1957 in Mellau (A) geboren. 1977-85 Architekturstudium an der TU Wien. Seit 1986 Zusammenarbeit mit Much Untertrifaller, 1994 Bürogründung. Leitung des Lehrgangs »überholz« an der Kunstuniversität Linz. Gestaltungsbeirat in mehreren Städten und Gemeinden.
 
Much Untertrifaller
1959 in Bregenz (A) geboren. 1979-88 Architekturstudium an der TU Wien. Seit 1986 eigenes Büro in Bregenz, seit 1994 gemeinsam mit Helmut Dietrich. Gastprofessuren in Konstanz, Wien und Graz. Gestaltungsbeirat in Graz und Landshut.

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