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Wohnhochhaus "Citygate Tower" in Wien von querkraft Architekten

Der Tanz des Lattenzauns
Wohnhochhaus in Wien (A)

Der Citygate Tower im äußersten Norden von Wien ist eine eigenwillige Erscheinung. Das 35-geschossige Wohnhochhaus vereint Ästhetik und Banalität, Opulenz und Wirtschaftlichkeit, silbernschimmernde Eleganz und kostengünstigen Baumarkt-Chic.
Architekten: querkraft
Tragwerksplanung: KS Ingenieure
Kritik: Wojciech Czaja
Fotos: Lukas Dostal
Autohäuser, Reifenhändler, Tankstellen, Lagerhallen, Erotiksupermärkte, XXL-Discounter, Hundefutter- und Katzenstreugeschäfte und mittendrin ein dunkelblauer Ikea. Doch plötzlich ragen aus dem peripheren Gewerbe- und Fachmarktsumpf, als hätte jemand ein Stückchen Erdkruste extrudiert, zwei monumentale Hochhausstelen in den Himmel. Auf den ersten Blick wirken die beiden, zugegebenermaßen nicht uneleganten Turmbrüder wie fehlgelandete Versatzstücke aus Hongkong, Benidorm oder Las Vegas.
Tatsächlich ist die Existenz des 100 m hohen Citygate Towers und des etwas kleineren Leopoldtowers einer urwienerischen Verkettung von stadtplanerischen Umständen zu verdanken. Durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie 1 wurde der Norden Wiens, beinahe 10 km vom Stadtzentrum entfernt, unmittelbar aufgewertet. Die Immobilienbranche witterte ihre Chance und machte sich schon bald für eine lukrative Umwidmung der letzten noch ungenutzten Freiflächen im Quartier stark. Luxuriöse Bürotürme mit Blick auf ganz Wien. Das war die Vision.
Wohnungen statt Büros
Im Zuge der Finanzkrise 2008 musste der Investor und Immobilienentwickler Georg Stumpf, der sich mit der Errichtung des 202 m hohen Millennium Towers 1999 einen Namen gemacht hatte, jedoch umdenken und beschloss, die umgewidmeten Grundstücke mit den großen zugelassenen Gebäudehöhen nun für Wohnzwecke zu nutzen. Keine schlechte Idee angesichts steigender Einwohnerzahlen, dachte sich die Stadt Wien und gab für die Pläne grünes Licht.
Ursprünglich wollte der Bauherr, nachdem die Turmpläne anderer Büros vom Grundstücks- und Fachbeirat bereits zweimal abgelehnt worden waren, von dem international etablierten Architekturbüro querkraft lediglich einen Fassadenentwurf. Dies lehnten die Architekten jedoch ab und erhielten schließlich den Auftrag für die gesamte Planung, und nun ist das Resultat der fast zehn Jahre andauernden Genese endlich gebaute Materie.
»Wenn schon Hochhaus, dann aber wirklich«, sagt Jakob Dunkl, Partner bei querkraft. »Ein Hochhaus muss nicht nur alle Funktionen wie normale Gebäude erfüllen, sondern stellt darüber hinaus ein weithin sichtbares Zeichen in der Stadt dar. Wir wollten diesen skulpturalen Charakter aus der Struktur heraus entwickeln, und so sind die tanzenden Linien an der Fassade Abbild der Funktion und des Innenlebens.« Im Klartext: Der Turm ist über die gesamte Höhe mit Balkonbändern umfasst. Zu jeder Wohnung gehört zumindest ein Bereich, an dem sich der 1,20 m tiefe, lineare Freiraum punktuell auf 2,10 m weitet. Die Ausbuchtung, die Frühstückstisch und Sonnenliege aufnehmen kann, wandert pro Geschoss um ein paar Zentimeter und führt auf diese Weise zum charakteristischen, aus der Ferne wirksamen, linearen Relief.
Üppig und sparsam zugleich
»Ja, natürlich ist die Geste opulent, aber immerhin ist es uns gelungen, diese Opulenz mit den einfachsten und billigsten Mitteln herzustellen«, erklärt der Architekt. Zwar habe man sich auch hochwertige Materiallösungen überlegt, letztendlich fiel die Wahl jedoch auf einen handelsüblichen Lattenzaun, den man auch im Baumarkt bekommt. Mehr als 38 000 Aluminiumlatten wurden im Citygate Tower verbaut, 4,2 km in Summe, wobei die Höhe und Dichte der Elemente im Bereich der runden Ausbuchtung sichtbar zunimmt. Hier sollte auch im 30. Stock noch ein Gefühl von Geborgenheit entstehen können. In gewisser Weise hat sich querkraft mit dieser hocheleganten Low-Budget-Lösung der pulsierenden, tanzenden Adern seine Alleinstellungsphilosophie der ersten Bürostunde erhalten: »Big wow for little money«.
Das an dieser Stelle eingesparte Geld – ein konventioneller Lattenzaun belastet das Baubudget weniger als jedes andere Brüstungsmaterial – sollte der sozialen Nachhaltigkeit zugutekommen. An der Nordseite des Turms setzten die Architekten einen haushohen, vertikalen Schnitt an. Statt Wohnungen sind hier Gemeinschaftsräume und Infrastruktureinrichtungen für die Allgemeinheit untergebracht. Wie Schubladen schweben die Funktionsboxen in unterschiedlichen Etagen, mal ein-, mal zweigeschossig, mal weiter vorne, mal leicht eingerückt. Die dazwischen liegenden Lufträume dienen als Gemeinschaftsterrassen und Belichtungsschotten für den weit im Gebäudeinnern liegenden Erschließungskern.
Soweit die Theorie. Die Praxis ist eine andere. Wo bis zuletzt Skygarten, Heimkino, Kletterhalle und Tischtennisraum geplant waren, befinden sich nun trostlose Mehrzweckräume mit Spannteppich und Alibimobiliar. Lediglich Yogaraum und Waschküche dürften den Transfer von der Vision in die Realität einigermaßen unbeschadet überstanden haben. »Wir haben vier Kinder und wir würden die Kinderspielräume gerne öfter nutzen«, sagt Farsana Nuuri, wohnhaft im sechsten Stock. »Aber das sind leere Räume mit nichts drin. Was sollen wir da machen? Ab und zu treffe ich dort andere Mütter, aber da wäre wirklich mehr möglich gewesen.«
Auch die Architekten sind enttäuscht, dass ihre Idee der »vertikalen Dorfstraße« nicht konsequent verfolgt wurde. Dominik Bertl von querkraft, der in das Projekt von Anfang an involviert war, erklärt »Wir haben die Räume im Kostenrahmen geplant, aber letztendlich beschloss der Investor, den Rotstift anzusetzen und die soziale Nachhaltigkeit gegen kurzfristige Wirtschaftlichkeit einzutauschen.« Besonders bitter ist das für den geplanten Fitnessraum im 30. und 31. Stock. Statt mit Sportgeräten wurde die Skybox mit Lagerabteilen wie in einem Keller zugestellt. Den Blick ins Weinviertel gibt’s gratis dazu. Einen luxuriöseren und ressourcenfeindlicheren Hort für Einmachgläser und leere Kartons gibt es in ganz Europa nicht.
Charmant kaschiert
Sinnvollerweise überaus luxuriös und geradezu vereinnahmend ist hingegen das Farbkonzept des Wiener Künstlers Heimo Zobernig. Es beruht auf einer Studie mit 1 888 Männern und Frauen und bildet ab, mit welcher Farbe die Befragten jeweils den Begriff »Geselligkeit« assoziieren. Das Resultat der Umfrage ist nun als prozentuales Farbspektrum auf die Höhe des gesamten Turms aufgeteilt: Treppenhaus, Korridore, Mehrzweckräume, Fassadeneinschnitt an der Nordseite. Ein Glück, dass nur 8 % der Befragten einen Braunton favorisierten. »Ich habe das Glück, in einem grünen Geschoss zu wohnen, aber ich finde die Idee mit den Farben auch grundsätzlich sehr schön«, meint Branko Pavlovsky aus dem 21. Stock. »Das ist mir allemal lieber als weiße, gesichtslose Flure, denn tatsächlich ist das Innere eines solchen Hochhauses recht eintönig und repetitiv.«
Die Farben verleihen dem Turm, der in konventioneller Bauweise und Struktur errichtet wurde, eine zusätzliche Qualität. Viel Effekt für wenig Geld eben. Alles andere als üppig und opulent nämlich ist das konstruktive und technische Innenleben des Wohnturms, der mit insgesamt 309 geförderten und frei finanzierten, durchwegs geschickt strukturierten und modular aufgebauten Wohnungen bestückt ist: Stahlbetonbauweise, Vollwärmeschutzfassade, Fernwärme, einfachste technische Details. Man sehe schon, dass an einigen Stellen gespart wurde, sagt ein Bewohner im raschen Vorbeigehen im Treppenhaus. Aber es sei auch das Bemühen sichtbar, die Wirtschaftlichkeit charmant zu kaschieren. Das Konzept scheint gelungen. Viele Bewohner haben an den Alulatten auf ihren Balkonen großen Gefallen gefunden. Dass es dabei um ein preisgünstiges Ready-made handelt, ist nur den wenigsten bewusst.
Der Citygate Tower, dieses Gebilde über dem nordwienerischen Gewerbeteppich, ist ein eleganter Turm, dessen tanzende Linien man von Weitem gerne betrachtet. Die Architekten haben beste Arbeit geleistet, doch solange der gewinnmaximierungsorientierte Investor an der sozialen Qualität des Projekts spart, bleibt man besser auf Distanz. Soeben hat querkraft eine Petition mit einer Gratis-Postwurfsendung an die 309 Haushalte des Turms gestartet. In einem kleinen Büchlein wird das ursprüngliche Konzept des Hauses erläutert. Darin erfährt man z. B. über die zunächst geplante Nutzung der »Kellerabteile« im 30. und 31. Stock und dass die Skygärten mit Bäumen bestückt werden sollten. Vielleicht, so Jakob Dunkl, finde sich ja eine Gruppe von Bewohnern, die die Gemeinschaftsräume einrichtet und das nachholt, was der Investor versäumt hat – mit etwas mehr sozialer und funktionaler Opulenz.

Wohnhochhäuser sind eine perfekte Antwort auf die wachsende Stadt, findet unser Kritiker Wojciech Czaja mit wohlgemerkt einiger Skepsis beim Hochblicken. Denn der eigentlich gelungene Citygate Tower hat zwei bittere Wermutstropfen. Erstens steht der Turm im gewerblichen Niemandsland. Und zweitens hat der Investor leider an entscheidenden sozialen Qualitäten zu sehr gespart.

~Wojciech Czaja
1978 geboren. Architekturstudium an der TU Wien. Freischaffender Architekturjournalist für Tagespresse und Fachmagazine. Zahlreiche Bücher. Seit 2005 Tätigkeit für die österreichische Tageszeitung Der Standard.


Standort: Wagramer Straße 195, A-Wien 1210

Bauherr: Stumpf Development, Wien
Architekten: querkraft architekten, Wien, Jakob Dunkl, Gerd Erhartt, Peter Sapp
Projektleitung: Carmen Hottinger
Mitarbeiter: Dominik Bertl, Stefanie Meyer, Peter Paller, Karo Hofer, Isabel Espinoza, Olaf Härtel
Tragwerksplanung: KS Ingenieure, Wien
Haustechnikplanung: ZFG-Projekt, Baden
Bauphysik: Roland Müller, Stockerau
Freiraumplanung: Auböck & Karasz, Wien
BGF: 32 646 m²
BRI: 90 000 m³
Baukosten: keine Angabe
Bauzeit: Februar 2013 bis April 2015

Beteiligte Firmen:
Generalunternehmer: Voitl & Co Baugesellschaft, Wien
Balkonbrüstungen: Guardi, Möllersdorf, www.guardi.at
Fenster: Felbermayer, Unterwaltersdorf, www.felbermayerfenster.at;Metallbau-Wastler, Linz, www.wastler.at
Innentüren Stahl: Domoferm, Gänserndorf, www.domoferm.com
Außentüren, Laubengang: Zirngast, Wien, www.zirngast.com
Aufzüge: Flügel & Klement, Wien, http://fk-aufzuege.conovio.eu

querkraft architekten
Jakob Dunkl
1963 in Frankfurt a. M. geboren. 1990 Diplom an der TU Wien. Mitarbeit in mehreren Architekturbüros. Seit 1994 gemeinsames Büro mit Gerd Erhartt, seit 1998 auch mit Peter Sapp als querkraft architekten. 1996– 2004 Lehrauftrag an der TU Wien, 2009 dort Gastprofessur. 2001 und 2004 Gastprofessur an der Roger Williams University in Rhode Island (USA). Seit 2010 Sprecher der Plattform Baukultur.
Gerd Erhartt
1964 in Wien (A) geboren. 1992 Architekturdiplom an der TU Wien. Mitarbeit in mehreren Architekturbüros, seit 1994 gemeinsames Büro mit Jakob Dunkl. 2001 Gastprofessur an der Roger Williams University in Rhode Island (USA). 2001-04 Lehrauftrag an der TU Wien, seit 2009 dort Gastprofessur.
Peter Sapp
1961 in Linz (A) geboren. 1980-90 Studienreisen in 12 afrikanischen Ländern. 1981-90 Mitarbeit in mehreren Architekturbüros. 1989-92 eigenes Büro, 1994 Architekturdiplom an der TU Wien. 1994-98 Mitarbeit bei Architekt Helmut Wimmer, seit 1998 querkraft architekten. Lehraufträge in den USA und Wien, 2006-11 Professur an der Kunstakademie in München.

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