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Ökosiedlung am Wasserturm in Kassel

… in die Jahre gekommen
Ökosiedlung am Wasserturm in Kassel

Im Nordwesten Kassels errichteten die Architekten Hegger. Hegger-Luhnen, Schleiff und Minke vor 24 Jahren eines der ersten zehn Modellprojekte für ökologisches Wohnen. Was damals skeptisch beäugt wurde, gilt heute als Vorzeigeprojekt. Die Siedlung beweist, dass sich die Grundprinzipien energieeffizienten und einfachen Bauens nach wie vor bewähren.

    • Architekten (Bauabschnitt 1): Manfred Hegger, Doris Hegger-Luhnen, Gernot Minke, Günter Schleiff

  • Text: Rosa Grewe Fotos: HHS PLANER + ARCHITEKTEN
An diesem frostigen Wintertag erscheint die Straße »Am Wasserturm« in Kassel wie eine nordische Feriensiedlung. Die silber-verwitterten Lärchenholzfassaden glänzen in der Sonne, davor winterliche Gärten mit kargen Sträuchern, Hecken und Halmen. Was jetzt edel-grau vor blauem Himmel steht, ist sommers ein grünes Idyll. Die 17 unterschiedlichen Holzhäuser verbindet ein geschlängelter Fußweg in Ost-Westrichtung. Auf der nörd- lichen Seite begrenzen vier schmale Riegel das Grundstück nach Norden, ihre südlichen Längsfronten öffnen sich zum Garten und zum Weg. Südlich liegen zwei »Ökotonden« – Häuser mit quadratischen Grundflächen, die sich um eine erhöhte Gebäudemitte organisieren, sowie ein überwiegend eingeschossiger Bautyp mit aneinandergereihten, achteckigen Raumein-heiten. Das war die erste Bauphase. Im westlichen Teil der Siedlung sind Doppelhäuser mit kompakten Grundrissen angeordnet, die zweite Bau-phase. Auf den Südseiten aller Häuser nehmen Wintergärten die Sonnenwärme und die überwinternden Kübelpflanzen auf. An der Grundstruktur von 1986 hat sich nicht viel geändert. Die Architektursprache ist die der 80er geblieben. Dennoch erscheinen v. a. die Riegelgebäude wieder relativ zeitgemäß, weil die Einfachheit der Gebäudeform und die Betonung der Kubatur aktuelle Architekturthemen sind. Das Fassadenmaterial und die Bauprinzipien verbinden die Häuser der Siedlung bis heute zu einer Einheit, etwa deren Holzkonstruktion, die eingeschossigen Wintergärten, die begrünten Dächer, der Verzicht auf Dachüberstände oder die Fenstergrößen. ›
Doch nicht nur die Architektur lockt Fachleute in die Siedlung, in der auch heute noch ihre ursprünglichen Planer wohnen. Architektin Doris Hegger-Luhnen erklärt: »Es ist nach wie vor eines der wenigen Projekte in Deutschland, das einen ganzheitlichen, ökologischen Anspruch erfüllt«. Das Projekt zeigt, dass Öko auf einfachen Prinzipien basiert und keine Frage des Budgets oder teurer Technik ist. »Das sind keine Müslihäuser«, erklärt sie, »hier haben sich viele Köpfe gute Gedanken gemacht«. Die Kritik von 1984, als die Ökohäuser entstanden, wirkt nach, besonders die Medien berichteten nicht immer positiv. Heute sind sowohl das Pionierprojekt als auch seine Architekten international bekannt für eine ökologische und energieeffiziente Bauweise. Doch die »Freaks« von damals waren weniger freakig als die Nachbarn und die Medien damals dachten. Ihr Maßnahmenkatalog von 1985 liest sich wie heutige Bauauflagen. Etwa die Vermeidung versiegelter Flächen, Begrünung von Dächern und Fassaden, Schaffung eines sommerlichen Wärmeschutzes, Reduktion von Transmissions- und Lüftungswärmeverlusten oder des Trinkwasserverbrauchs durch Regenwassernutzung. Desweiteren die Forderung nach wirtschaftlichen Grundrissen, einfachen Lösungen, schadstoffarmen Baumaterialien, die Möglichkeit zum Selbstbau und eine Energieeinsparung durch gute Dämmung, gezieltes Lüften, wirtschaftliche Heizsysteme und Pufferzonen. Ihre Forderungen erschienen damals radikal, weil sie sich nicht nur auf die Bauweise selbst bezogen, sondern auf ein Stadtgefüge und ihre Gesellschaft. 1987 schrieb Manfred Hegger in der entsprechenden Veröffentlichung zur Ökosiedlung für die db (Ausgabe 7/1987): »Ökologisches Bauen muss auch gesellschaftliche Veränderungen aufgreifen und – nicht weniger schwierig – die soziale Organisation des Umgangs mit Natur und Umwelt strukturieren«. Heute gilt die Forderung nach der Nutzungs- und Bevölkerungsdurchmischung, nach Verdichtung und Begrünung der Stadt und nach flexiblen Lebens- und Arbeitsmodellen als selbstverständlich, auch mit Blick auf die Probleme einer ansteigenden Mobilität, eines demografischen Wandels und dramatischer Klimaentwicklungen.
Dennoch ist die Siedlung am Wasserturm ein klassisches Wohngebiet mit Einfamilienhäusern, Doppelhäusern und PKW-Stellplätzen, und kein durchmischtes, autofreies Stadtquartier, weder sozial noch infrastrukturell. Damals wie heute gab und gibt es »radikalere« Projekte, bei denen sich Bewohner zu einer integrativen, sozial durchmischten Ökogemeinschaft ohne Auto verbinden. Der Anspruch der ökologischen Ganzheitlichkeit der Kasseler Ökosiedlung ist aber gerechtfertigt, weil es das bürgerliche Leben mit Öko- logie verband und mit dem Hippieimage aufräumte. V. a. bei drei Aspekten war das Projekt zukunftsweisend: dem nachbarschaftlichen, dem bau- biologisch-ökologischen und dem energetischen Aspekt. Die Architektin erinnert sich: »Was haben wir damals gekämpft für neue Lösungen, die heute Standard sind, etwa das Gründach, die Regenwasserversickerung oder die Mülltrennung«. ›
NAchbarschaftlich, baubiologisch, energieeffizient
Wir, das sind die Architekten, gemeinsam mit ihren befreundeten Nachbarn. Die Siedlung ist in einer Baugruppe entstanden, die Baufamilien fanden sich im Bekanntenkreis und setzten gemeinsame Prioritäten und Gestaltungskriterien, ohne auf individuelle Lebensräume zu verzichten. Ein Zeichen für eine gute Nachbarschaft ist, dass fast alle Bewohner aus der ersten Stunde noch dort wohnen. Raum für Kreativität, Aus- und Umbau ist da, ohne dass Gestaltungsrichtlinien zwingend wären. Wie selbstverständlich erweiterte der Nachbar sein Haus mit der in der Siedlung typischen Lärchenholzfassade, verzichtete bei einer Neugestaltung des Gartens weiterhin auf Zäune, wie es die Nachbarn auch tun.
So hat sich die Siedlung über die Jahre nur leicht verändert. Natürlich sanierten die Bewohner seit 1985 mit aktuellen Standards, die auch in anderen neueren Gebäuden üblich sind: moderne Gas-Heizkessel, dreifach- verglaste Fenster mit verbesserten Dämmeigenschaften, Bäder, Küchen, Bodenbeläge und Mobiliar in zeitgemäßem Design. Doch der originale Gesamteindruck blieb. Die Ganzheitlichkeit der Gestaltung ist ein Gegenentwurf zur heutigen, klassischen Neubausiedlung, in der sich extrovertierte Individualität und serielle Gleichheit unvereinbar gegenüber stehen und auf den Ort bezogene Gestaltungsrichtlinien als Last empfunden werden.
Konstruktiv basieren die Häuser auf einer Holzständerbauweise, mit denen flexible Grundrissänderungen möglich sind. Ergänzt ist diese mit Lehm- ziegeln und einem klimaregulierenden Lehmputz. Haftete damals dem Bauen mit Lehm ein alternatives Image an, so passt Lehm heute wieder in unsere Vorstellung von zukunftsfähigen, gesunden Baustoffen. Wohl auch, weil Lehmbauten ihre Gestalt verändert haben und nicht mehr durch eine spezielle, organische Bauform auffallen.
Die Siedlung ist eine solare Siedlung, ohne dass sie mit Solartechnik trumpft. Denn 1986 waren Photovoltaikanlagen zu teuer für das private Einfamilienhaus und auch später wurde nur vereinzelt Solarthermie nachgerüstet. Mit passiven Maßnahmen wird Wärme gewonnen: Die Ausrichtung der Gebäude, der Anteil geschlossener zu geöffneter Fassade und die Wintergärten, die hier als nicht beheizte Außenräume und nicht als Wohnraumerweiterungen geplant sind. Nur so schaffen sie einen Klimapuffer zwischen Außen und Innen, reduzieren die Energieverluste und sammeln gleichzeitig solare Wärme. Eine Beheizung der Wintergärten, wie heute oft üblich, würde dagegen zu hohen Energieverlusten führen. Folglich ist auch an diesem kalten Wintertag der Wohnraum warm, ohne eine auf Hoch- touren laufende Heizung.
Lowtech statt Hightech
Wo heute technisch alles möglich erscheint, finden die Grundprinzipien des energieeffizienten Bauens weniger Beachtung. Es gibt derzeit den Trend zur teuren Anlagentechnik, auch bei seriellen Fertighäusern. Die Gebäude am Wasserturm haben sich hingegen mit Low-Tech bewährt, sie erfüllen auch nach 25 Jahren die aktuellen Anforderungen der EnEV, 2008 lag der Gasverbrauch für Heizen, Kochen und warmes Wasser bei 56 kWh/m²a. Natürlich würde man heute anders bauen, auf moderne Technik komplett zu verzichten, wäre nicht sinnvoll. Die Architektur des Büros HSS trägt längst eine andere Gestalt: »Mit jedem Projekt, mit jeder Lösung haben wir uns weiterentwickelt. Es gibt mittlerweile so viele intelligente Bausteine, die man einsetzt«, erklärt Hegger-Luhnen. Das Grund- prinzip aber bleibt.

Ökologisch Leben, heute ist das komfortabler. Der Müll, den die Bewohner damals mühsam trennten und einzeln zu den Sammelstellen fuhren, kommt heute in die passenden Mülltonnen vor dem Haus. Wer heute ein Gründach möchte, sucht sich den passenden Dachdecker; wer Regenwasser nutzt, wird mit reduzierten Abwasserkosten belohnt. Die Einstellung zum umweltfreundlichen Bauen hat sich bei vielen Menschen zwar geändert, der Klimawandel, Naturkatas- trophen und hohe Energiepreise sensibilisieren die Öffentlichkeit. Doch nach wie vor ist ökolo-gisches Bauen Überzeugungsarbeit, nach wie vor gelten die Forderungen von damals. »Nur Bestimmungen reichen nicht, um ökologisches Bauen voranzubringen. Wir brauchen gute, gebaute Beispiele als ganzheitliche Lösungen, nicht Einzeltechnologien«. Bei allem Fortschritt lohnt sich manchmal der Rückblick, denn er zeigt, wo die Zukunft liegen könnte.


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