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Klotzen statt kleckern

Wien baut – und vergisst darüber die URbanität
Klotzen statt kleckern

Mitte Dezember ging Wiens Hauptbahnhof in Vollbetrieb. Während die Stadt damit verkehrstechnisch im 21. Jahrhundert angekommen ist, lässt sie in den Neubauvierteln rings um das Großprojekt noch die überfälligen Weichenstellungen für einen zeitgemäßen Städtebau vermissen.

~Reinhard Seiß

Der neue, moderne Durchgangsbahnhof löst die beiden 2010 abgerissenen, wenige Hundert Meter östlich gelegenen Kopfbahnhöfe von Südbahn und Ostbahn ab. Im Vergleich zu den »Kathedralen des Verkehrs« aus der Vor- und Nachkriegszeit entspricht das neue Stationsgebäude von Theo Hotz, Ernst Hoffmann und Albert Wimmer architektonisch allerdings nicht seiner infrastrukturellen Bedeutung. Wenn die Entwicklung des frei gewordenen 60 ha großen Süd- und Ostbahn-Geländes um das Jahr 2025 abgeschlossen ist, wird der pragmatische Zweckbau wohl eines der unscheinbarsten Gebäude hier sein. Denn das Gros der Nutzflächen liegt unterhalb der Halle und der in Hochlage errichteten Bahnsteige: Rund 90 Läden für Handel, Dienstleistungen und Gastronomie auf vier Ebenen bilden dort bereits seit anderthalb Jahren das Herz der Stationsneubaus – was schon vom Bahnhofsvorplatz aus wahrnehmbar ist.
Der Platz selbst ist für Wiener Verhältnisse wohltuend zurückhaltend gestaltet: Sitzgelegenheiten, ein wenig Grün; schlichte Beleuchtungskörper ohne bemühtes künstlerisches Konzept; ein Gastgarten, v. a. aber ein wirklich großzügiger öffentlicher Raum, völlig frei von Autos. Stattdessen fungiert er als Drehscheibe für alle anderen, sanften, Mobilitätsformen des Fern- und Nahverkehrs.
Misslungen ist den Planern dagegen, die Barrierewirkung des Gürtels zu überwinden – jener bis zu achtspurigen Verkehrsschneise, die den Bahnhof von den inneren Bezirken trennt.
Versäumt wurde auch, das Großprojekt mit den unmittelbar angrenzenden gründerzeitlichen Vierteln zu verknüpfen. Hauptleidtragende ist die in den 70er Jahren zur Fußgängerzone umgestaltete Favoritenstraße, die einen Impuls durch den nahen Verkehrsknoten gut vertragen hätte können. So aber reihen sich dort heute Ein-Euro-Läden, Wettlokale, Handy-Shops und zunehmend mehr Leerstände aneinander. Überraschen sollte der Niedergang einer der wichtigsten Geschäftsstraßen Wiens niemanden. Denn von Anbeginn des Bahnhofsprojekts war klar, dass ein 20 000 m² großes Einkaufszentrum ohne jegliche Rücksichtnahme auf das Umfeld den Todesstoß für den kleinstrukturierten Einzelhandel bedeuten würde. Doch lagen dem Masterplan von 2004 für das Bahnhofsviertel keine ernstzunehmenden urbanistischen Überlegungen zugrunde. Statt qualitative städtebauliche Ziele zu diskutieren, wurden die quantitativen Superlative der damals »größten Baustelle Europas« mit Platz für dereinst 13 000 Bewohner und über 20 000 Beschäftigte beworben.
Vorrangig war das Bemühen, das zu knappe Budget von Bund, Stadt und Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) für die Realisierung des Milliardenprojekts Hauptbahnhof durch einen dreistelligen Millionenbetrag aus der immobilienwirtschaftlichen Verwertung der ÖBB-Flächen aufzubessern – durch möglichst viel Einzelhandel am Bahnhof selbst, dicht gestaffelte Büro- und Hoteltürme außen herum, Wohnbauten auf den restlichen, schon etwas entlegeneren Grundstücken sowie einen Bildungscampus irgendwo am Rand. Genau dieses Konzept wurde vom Gemeinderat 2006 als Flächenwidmungsplan für das Bahnhofsviertel beschlossen. Die Sonntagsreden von einer Stadt der kurzen Wege, einer Durchmischung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen waren vergessen. Für städtebauliche Qualität soll nun ein 7 ha großer Park sorgen, der freilich nicht von den privaten Stakeholdern, sondern von der öffentlichen Hand finanziert wird.
Dabei wäre in diesem Entwicklungsgebiet, das wie kein anderes durch öffentlichen Verkehr erschlossen, von attraktiven Grünräumen wie dem Belvedere- und dem Schweizergarten umgeben und mit nur 2 km Entfernung zur City zentral gelegen ist, ein zukunftsweisender, urbaner Stadtteil möglich gewesen: mit kleinteiliger, multifunktionaler Struktur, unabhängig vom privaten Pkw, üppig durchgrünter Bebauung und vitalen öffentlichen Räumen. Dass es anders kam, zeigt der bereits fertiggestellte Teil des westlichen »Sonnwendviertels«. Das Straßenbild ist durch parkende Autos geprägt, obwohl jeder Bauplatz ohnehin mit zwei bis drei Garagengeschossen unterkellert ist. Die bis zu elf Etagen hohe Bebauung dient mit wenigen Ausnahmen allein Wohnzwecken. In der Sockelzone herrschen Tiefgaragenein- und -ausfahrten, Haustechnik- und Müllräume vor. Einen Bäcker sucht man ebenso vergeblich wie einen Zeitungsladen, obwohl in den drei Baublöcken hier rund zweieinhalbtausend Menschen leben. Den einzigen Lichtblick stellt bisher ein Café am Rand der Bebauung dar.
Immerhin investierten einige Bauträger in ein überdurchschnittliches Angebot an Gemeinschaftseinrichtungen in ihren Häusern. Die Grünräume dagegen erweisen sich auch hier als die Schwachstelle im heutigen Wiener Wohnungsbau. Der nördliche Baublock im Sonnwendviertel ist ein Paradebeispiel für die Verunstaltung eines gemeinschaftlichen Hofs durch maßstabslose Entlüftungen und Belichtungen der darunterliegenden Garagen. Im südlichen Baublock bestimmt das »Modell Mietergarten« den Innenhof: Handtuchgroße Grünflächen wurden – maschendrahtumzäunt – den EG-Wohnungen zugeschlagen, sodass in der Mitte für kaum mehr als einen kleinen Spielplatz und ein paar Bänke Platz blieb. Landschaftsplaner wurden herangezogen, um die bauwirtschaftliche Geringschätzung des Freiraums zu kaschieren. Brauchbarer werden die knappen Flächen dadurch selten. Selbiges gilt für die Architektur: Manche baukünstlerischen Auffälligkeiten – seien es knallgelbe Fußgängerbrücken, die benachbarte Häuser in 12 m Höhe quer über den Hof verbinden, seien es statisch aufwendige Auskragungen einzelner Gebäudeteile oder Arkaden ohne Sinn und Zweck – scheinen um teures Geld v. a. von der Gewöhnlichkeit des Massenwohnungsbaus ablenken zu wollen.
Für das Büro- und Hotelviertel rings um den Bahnhof gibt es ebenfalls bereits Anschauungsbeispiele, auch wenn das Gros des »Quartiers Belvedere« erst 2018 fertig sein wird. Die obere Messlatte definiert dabei der kurz vor Eröffnung stehende Hauptsitz der Erste Bank: Der Campus von Henke Schreieck Architekten bietet nicht nur 4 500 Arbeitsplätze – der Freiraum, eine Veranstaltungshalle, Cafés, Restaurants oder ein Kindergarten stehen auch für Außenstehende offen. Bereits fertiggestellt wurde der bis zu 88 m hohe Büroturm der Architekten Zechner & Zechner mit dem neuen Hauptsitz ›
› der ÖBB. Auf der zum Bahnhof orientierten Seite umfasst er im EG u. a. eine Bäckerei und eine Bankfiliale. Auf den anderen beiden Seiten indes verschließt sich der dreieckige Komplex im Sockelbereich auf ganzer Länge gegenüber dem Umfeld, was den Straßenraum veröden lässt. Zumal die Planungspolitik nur halbherzig auf Verbesserungen des Typus Hochhaus drängt, dürften im Bahnhofsviertel noch mehr solcher Monolithen entstehen.
Einige davon sind bereits in Bau. Österreichs größtes privates Immobilienunternehmen errichtet gerade drei Bürotürme mit 38, 66 und 88 m, die im Sockelbereich durch weitere 5 000 m² Einzelhandelsfläche verbunden werden. Gleich daneben – wenn auch ohne erkennbaren Zusammenhang – realisiert der zweitgrößte Baukonzern des Landes ein hoch verdichtetes Karree, das ebenso Büro- und Handelsflächen bieten sollte. Aufgrund der massiven Übersättigung des Wiener Büromarkts sieht der Entwickler nun allerdings weniger Büroflächen und dafür zwei Hotels sowie einen 60-m-Turm mit 135 Wohnungen vor. Dass der Städtebau, der direkt vom Investor stammt und ursprünglich nur den Ansprüchen von Angestellten und Kunden genügen musste, jetzt aber genauso den Bedürfnissen einer Wohnbevölkerung zu entsprechen hat, veranlasste im Rathaus bis dato niemanden, Änderungen einzufordern. Dabei ist dieses Projekt nicht das einzige, bei dem aus geplanten Bürotürmen Wohntürme werden.
Bedenklich erscheint zudem die Verkehrserschließung dieser Baufelder durch ein engmaschiges Netz von vierspurigen Straßen, wie es sie im inneren Bereich Wiens sonst nur an den Hauptverkehrsrouten gibt. Entsprechend großzügig dimensioniert sind auch die Garagenkapazitäten im gesamten Entwicklungsgebiet. Selbst wenn dieses Verkehrsflächenüberangebot in den nächsten Jahren eine gewisse Auslastung finden sollte, ist es in Anbetracht des zuletzt rückläufigen Autoverkehrsanteils im dichtbebauten Teil Wiens, insbesondere aber angesichts von Klimawandel und Energieknappheit verantwortungslos, die Struktur eines neuen Stadtteils für die nächsten 100 Jahre dermaßen auf den motorisierten Individualverkehr auszurichten. Bleibt zu hoffen, dass im noch unbebauten östlichen Teil des Sonnwendviertels vieles besser wird. Immerhin drängt die Stadtplanung hier auf weniger Autos, auf lebendigere EG-Zonen und eine kleinteiligere Bebauung – auch durch Baugruppen. Gekannt hätte man diese Faktoren einer urbanen Stadtentwicklung freilich auch schon bei der Planung der nun bereits errichteten Quartiere. •
Der Autor studierte Raumplanung und Raumordnung an der Technischen Universität Wien und arbeitet als freier Planer und Berater, Fachpublizist und Filmemacher in Wien.
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